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Stille Trauer. Im Münster Sankt Jakobus erinnern 14 Kerzen an die Toten.

© Felix Kästle/dpa

Nach dem Brand in Titisee-Neustadt: Wie der Schwarzwald mit dem Entsetzen umgeht

Wie konnte das nur passieren? Nach dem Brand in einer Behindertenwerkstatt sterben 14 Menschen. Einer muss doch schuld sein. Doch die wichtigsten Fragen bleiben offen.

Von Julia Prosinger

Um diese Zeit stehen jedes Jahr überall in Titisee-Neustadt rot-weiße Holzfiguren, grob gezimmerte Wichtel. Sie sind das Markenzeichen der örtlichen Behindertenwerkstätten und werden auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Rathaus verkauft.

Auch heute ist die Stadt voller Wichtel, kleine auf Fensterbrettern, riesige in Schaufenstern. Aber manche Wichtel tragen Schilder: „in stiller Anteilnahme“ steht da beispielsweise. 14 Menschen, aus deren Werkstatt die Wichtel stammen, sind am Montag bei einem Brand gestorben.

Jetzt trauert Neustadt, ziemlich still. Titisee-Neustadt, Region Breisgau-Hochschwarzwald, 12 000 Einwohner, ein Ort mit zahlreichen Hotels und Sportgeschäften, wo die Menschen Alemannisch reden und einen festen Händedruck haben, wo einmal pro Stunde ein Zug hält, die Höllentalbahn. Vor der Werkstatt im Gewerbegebiet, zwischen TÜV und Speditionsunternehmen, brennen sechs rote Kerzen, zwei rote Rosen liegen daneben. Brandspuren, zerstörte Fenster kann man nur auf der Hinterseite des Hauses erkennen, aber das Feuer hat seinen Geruch hinterlassen, zwei Tage später hängt er noch in der Luft.

In der Altstadt stellen Geschäfte Spendenbüchsen neben die Wichtel. In den Cafés legen Menschen einander die Arme auf die Schultern, sie schütteln die Köpfe, „schrecklich“ murmelt es aus den Ecken. Im Neustädter Münster Sankt Jakobus flackern auf den Treppenstufen Kerzen, die Stadt hat hier einen „Ort der Trauer“ eingerichtet.

17 Uhr Dienstag, Tag eins nach dem Brand, Pressekonferenz unter dem tiefen Dach des Feuerwehrhauses, beigefarbener Linoleumboden, helle Holzbalken. Vor einer Wand aus Kameras und Mikrofonen sitzen Regierungspräsidentin, Landrätin, Bürgermeister, Leitender Kriminaldirektor, Leitender Oberstaatsanwalt, Kreisbrandmeister, Geschäftsführer des Deutschen Roten Kreuzes Freiburg und der Vorstand der Caritas Freiburg, der am Vorabend im Fernsehen geweint hat. Im Publikum sitzen Bürger der Stadt, jeder kennt hier jeden, jeder kennt auch Opfer.

Man sollte meinen, dass es nun laut und schrill würde, auf der Suche nach einem Schuldigen. Dass die Verantwortlichen von der Wucht der Katastrophe überfordert abblocken, sich verbissen verteidigen würden. Dass die Journalisten Fragen nach Angehörigen stellen, nach intimen Details drängen.

27 Stunden nach dem Brand ist es im Feuerwehrhaus von Neustadt aber einfach still, draußen regnet es sacht.

Die Verantwortlichen bedanken sich nacheinander, ruhig, freundlich, mit schwarzwälder Dialekt, bei den Einsatzkräften, die sehr mitgenommen seien, sie appellieren an die Medien weiter so pietätvoll zu berichten. Noch nie, sagen die Verantwortlichen, habe ein Unglück dieses Ausmaßes die Region betroffen.

Und weil sie keine Menschen sind, die gern spekulieren, sagen sie nur, was sie inzwischen sicher wissen: Am vergangenen Montag strömt aus einer Flasche im Erdgeschoss der Behindertenwerkstatt unkontrolliert Propangas. Es muss sich dann entzündet haben. Wie, das gehört noch zu den Dingen, die sie nicht wissen. Das Feuer breitet sich schlagartig aus, vielleicht beschleunigt durch Klebstoffe aus der Werkstatt. Nachbarn berichten von einem Knall, die Feuerwehr spricht von einer Verpuffung.

Niemand will über die Gefühle der Angehörigen sprechen

Die automatische Brandmeldung löst aus, die Feuerwehr ist nach sechs Minuten am Einsatzort. An den Fenstern schreien Menschen um Hilfe, auf Terrassen haben sich Rollstuhlfahrer und Betreuer geflüchtet. 86 Menschen befreien sich selbst, elf rettet die Feuerwehr. Die Firmen in der Nachbarschaft nehmen die Geflohenen auf, sie kochen Tee. Bei der Stadt gehen Anrufe ein, Anwohner wollen Geld spenden. Am Ende werden 125 Feuerwehrmänner, 100 Polizeibeamte, 82 Mitarbeiter des Roten Kreuzes, 15 Autos und 2 Hubschrauber im Einsatz gewesen sein. Trotzdem sterben 14 Menschen, darunter eine 50-jährige Betreuerin, zehn Frauen, die jüngste 28, die älteste 68, drei Männer, zwischen 45 und 68 Jahren. Der giftige Qualm hat sie getötet. Neun Menschen, darunter auch ein Feuerwehrmann, werden mit Verletzungen in verschiedene Krankenhäuser eingeliefert. Weitere sind leicht verletzt.

Hätte es verhindert werden können? Im Feuerwehrhaus suchen die Journalisten nach einem Schuldigen: Wozu gab es diese Gasflasche? Antwort: Sie gehörte zu einem mobilen Gasofen. Sind solche Öfen Standard im Winter? Nein, sagt die Freiburger Caritas. War der Hahn der Gasflasche offen? War sie überhaupt in Betrieb? Wozu muss ein sechs Jahre altes Gebäude mit neuen Fenstern und Zentralheizung überhaupt zusätzlich mit Gas beheizt werden? Noch keine Antworten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, ob fahrlässig gehandelt wurde. Für Brandstiftung sieht sie keine Anzeichen. Doch das Feuer und die Rettungsaktion haben die Spuren verwischt. Eine 60-köpfige Sonderkommission versucht nun, sie wieder sichtbar zu machen.

Auch die wichtigste Frage bleibt offen: Hätte es genauso viele Tote gegeben, wenn sich in dem Raum, wo das Feuer ausbrach, keine Menschen mit Behinderungen befunden hätten? Wie viele Rollstuhlfahrer waren unter den Toten? Wie viele geistig Behinderte, die die Gefahr nicht erkannten?

Weil niemand über die Gefühle der Angehörigen sprechen will, kann man nur erahnen, was der Brand für sie, die Rettungskräfte und die Angestellten der Werkstatt bedeuten mag. Ein Taxifahrer erzählt, wie er am Montagabend eine bangende Mutter ins Nachbardorf gefahren habe, wo sie ihre erstickte Tochter identifizieren musste. Die Mutter habe in den letzten Jahren nicht mehr die Kraft gehabt, sich um ihre erwachsene Tochter zu kümmern, Gott sei Dank habe es das Wohnheim und die Werkstätten gegeben.

Jemand, der die Arbeit dort gut kennt, sich aber auch an den verschwiegenen Anstand der Stadt halten will, erzählt, dass die Werkstatt eine zweite Heimat sei. „Die behinderten Menschen arbeiten dort acht Stunden am Tag, finden Freunde, auch aus den umliegenden Gemeinden. Manche bleiben ein Leben bis zur Rente dort, ihre Gruppenleiter werden oft wie zweite Väter für sie.“

Gegründet wurde die Werkstatt vor Jahrzehnten als Elterninitiative, mittlerweile betreibt sie die Caritas. Wer dort arbeiten will, wird zunächst zwei Jahre ausgebildet, dann wird er, je nachdem, ob er besser montieren, verpacken, schreinern oder basteln kann, einer Gruppe zugeordnet. 120 Behinderte arbeiteten zuletzt dort. „Die Menschen gehen stolz zur Arbeit. Sie beweisen sich hier Dinge, von denen sie nie geglaubt haben, dass sie sie leisten können“, sagt der Kenner aus dem Umfeld der Einrichtung.

Jeder wäre unter diesen Bedingungen erstickt, sagt der Feuerwehrmann

Menschen mit Behinderungen würden zu Hause oft stark umsorgt, in der Werkstatt lernen sie selbstständig und pünktlich zu sein, den Arbeitsplatz sauber zu halten. Die Betreuer – Schreiner, Schneider, Metallverarbeiter mit sonderpädagogischer Ausbildung – zerlegen die Arbeitschritte, damit jeder teilnehmen kann, jeder ein Erfolgserlebnis hat oder, wie es im Gesetz steht, jeder eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung erbringen kann. Dafür gibt es Lohn und Urlaubstage, Sozial- und Krankenversicherung. Insgesamt arbeiten in Deutschland 290 000 Menschen in Behindertenwerkstätten.

„Natürlich sind diese Menschen besonders schutzbedürftig. Die Gruppenleiter müssen ständig Gefahrenquellen ausschalten“, sagt der Mann, der die Einrichtung gut kennt. Die Maschinen werden so gut es geht umgerüstet, sicherer gemacht. An manche Kanten kommt ein Polster. Aber die Frage bleibt: Sind so viele Menschen gestorben, weil sie nicht davonlaufen konnten?

„Jeder wäre unter diesen Bedingungen erstickt“, sagt Gotthard Benitz, Kommandant der Feuerwehr Titisee-Neustadt in seinem dunkelblauen Pullover mit dem Emblem der Feuerwehr. Drei bis vier Atemzüge Kohlenstoffmonoxid reichten aus, um bewusstlos zu werden und schließlich zu ersticken. Den 14 Eingeschlossenen, in dem Raum, wo der Gasofen stand, halfen auch die Brandschutztüren, Feuertreppen und ausgeschilderten Fluchtwege nichts. Wie in der baden-württembergischen Bauordnung vorgeschrieben waren die Fluchtwege barrierefrei und kürzer als in herkömmlichen Industriebauten.

„Die hohe Anzahl der Toten hat aber nichts mit einem falschen Verhalten zu tun. Die Räumung lief völlig koordiniert.“ sagt Benitz.

Seit es die Werkstatt gibt, erzählt er, probe man regelmäßig. Mindestens einmal im Jahr und immer, wenn die Feuerwehr durch einen Fehlalarm ohnehin schon mal da ist. „Die Reaktion ist oft ganz anders als bei Menschen ohne Behinderung“, sagt er. Viele könnten sich nicht selbst überlegen, welches der nächste Schritt sein müsse, manche verstecken sich unter Betten und in Schränken. „Wir machen die Übung auch mal mit Theaternebel, also möglichst echt. Wir üben jeden Weg so genau, dass die Menschen die Situation wiedererkennen.“

Aber es stimmt auch, für viele seien die Übungen emotional belastend. Deshalb nehmen Rot-Kreuz-Mitarbeiter teil: „Die in ihren roten Westen holen die Behinderten morgens zur Arbeit ab, sie vertrauen ihnen.“ Und dann sagt Benitz noch, mit einem freundlichen Lächeln: „Aber den Ernstfall, den kann man nicht üben.“

Im Wohnheim Adler Post, einem ehemaligen Hotel, muss die Caritas nun tagsüber die Menschen versorgen, die eigentlich in der Werkstatt gearbeitet hätten und entscheiden, wie es weiter geht. Ein Provisorium annehmen, um eine Retraumatisierung zu vermeiden? Oder in die heil gebliebenen Räume der Werkstatt zurückziehen? Die Neustädter haben bereits Ausweichquartiere angeboten. Viele der Bewohner, erzählen die Mitarbeiter, machten sich jetzt Sorgen, um ihre Jacken und Taschen, die noch in der Werkstatt hängen. Manche seien einfach nur bedrückt, andere trauern explizit um einen lieben Freund. Zusätzliche Betreuer sind aus der Region angereist und schirmen das Haus sanft vor der Presse ab. Einer Mitarbeiterin fällt mehrfach der Schlüsselbund zu Boden. Sie schüttelt den Kopf und flüstert: „Kein Wunder, heute.“

Den Weihnachtsmarkt hat die Stadt nun abgesagt. Stattdessen solle es am Samstag eine Trauerfeier geben. Alles andere hätten die Neustädter unanständig gefunden.

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