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Panorama: Nach dem Massaker von Atlanta grübelt Amerika über den Druck der Aktien-"Day-Trader"

Dass hunderttausende Amerikaner, die anderswo wegen psychischer Erkrankungen in geschlossenen Heimen leben würden, in den USA auf sich allein gestellt sind und Opfer von Obdachlosigkeit oder Täter bei Attacken sein können, das weiß Amerika. Dass wieder und wieder Schüler aus Frust, Sinnlosigkeit und Langeweile auf ihre Mitschüler schießen, das auch.

Dass hunderttausende Amerikaner, die anderswo wegen psychischer Erkrankungen in geschlossenen Heimen leben würden, in den USA auf sich allein gestellt sind und Opfer von Obdachlosigkeit oder Täter bei Attacken sein können, das weiß Amerika. Dass wieder und wieder Schüler aus Frust, Sinnlosigkeit und Langeweile auf ihre Mitschüler schießen, das auch. Dass es zu leicht ist, in den Besitz von Schusswaffen zu kommen, das auch. Dass frustrierte Aktienjongleure zu Massenmördern werden können, das hat Amerika vergangene Woche dazulernen müssen.

Zwölf Menschen hat Mark Barton in Atlanta getötet. Elf weitere liegen noch in den Krankenhäusern. Am Wochenende wurde deutlich, was der Anlass für die Bluttat war. Barton hatte in nur einem Monat 105 000 Dollar verloren.

Nach den Todesschüssen von Atlanta inspiziert Amerika nun die Szene, der Barton entstammt. "Day-Traders" nennen sie sich selbst. Sie sind freiberufliche Aktienspekulanten, die ihre Zeit vor Computerterminals verbringen und auf kurzfristige Kursgewinne hoffen. Während normale Anleger Werte kaufen, die bekannte Firmen repräsentieren, weiß der durchschnittliche Day Trader nicht, was die gerade ge- oder verkaufte Firma produziert. Sie reiten auf den Wellen der Märkte und hoffen, von den Zuckungen der Kurse zu profitieren.

Manche sind blutige Anfänger, andere Profis, doch die meisten bleiben Amateure. Allein vor dem Terminal nehmen sie die Konkurrenz zu den großen Investmentfirmen auf, die tausende Analysten beschäftigen. Wie viele Day Trader es in den USA gibt, weiß niemand. Eine Schätzung lautet, der 44-jährige Barton sei einer von zehn Millionen gewesen. Rund hundert US-Firmen haben sich darauf spezialisiert, den Aktiensurfern die nötige Logistik bereitzustellen: Minimale Provisionen, Echtzeit-Zugang zu den Kursen, Charts mit Hintergrundinformationen. Eine der Firmen, All-Tech im Bundesstaat Georgia, wo Barton sein Blutbad anrichtete, hat allein 1500 Kunden.

Zwei Drittel aller Day Trader haben nach einem Monat ihr Kapital verloren; 90 Prozent sind nach einem Vierteljahr am Ende. Der Verband der Markt-Regulierer, die "North American Securities Administrators Association", hat im November 1998 vor dem Kurzfrist-Investment gewarnt und erklärt, beim Day-Trading handele es sich um Glücksspiel, nicht um Geldanlage.

Die Trading-Firmen erhöhen das Risiko für die Kunden, indem sie großzügige Überziehungskredite einräumen. Im Schnitt wird eine Einlage von 50 000 Dollar verlangt, um als Day Trader aktiv werden zu können. 35 Transaktionen pro Tag sind typisch. Mitgerechnet sind die Profis, die den ganzen Tag nichts anderes tun, und die Teilzeit-Händler, die in der Mittagspause statt in die Kantine an den Computer gehen, um mit Aktien zu jonglieren. Das Interesse der Day Trader gilt dabei nicht der Wall Street, also der "New York Stock Exchange", sondern dem High-Tech-Bruder Nasdaq, der voll-computerisierten Börse für Werte neuer Unternehmen, an der die Trennung zwischen Händler und Makler aufgehoben ist. Rund 15 Prozent des Nasdaq-Gesamtumsatzes stammt von Day Tradern.

Länger als ein paar Stunden behält kaum einer einen Wert. Oft sind es nur Minuten. Zu den beliebtesten Strategien gehört es, jene minimalen Kursausschläge zu nutzen, die unmittelbar nach einer Fernsehmeldung über eine Firma auftreten. Day Trader haben neben ihren Computer ein paar Fernseher gestellt, auf denen die US-Wirtschaftskanäle MSNBC und Bloomberg eingestellt sind. Flimmert die Ankündigung über den Bildschirm, gleich werde der Moderator die IPO ("Initial Public Offering", Erstemission von Aktien) der Firma YX vorstellen, schlagen die Day Trader zu. Sie kaufen Aktien oder Bezugsrechte, da sie wissen, dass jede öffentliche Aufmerksamkeit an sich schon den Wert einer Aktie hebt.

"Das ist nichts für Leute mit schwachen Nerven", hat ein Bekannter von Mark Barton gesagt, der bei All-Tech das Terminal neben dem des Todesschützen zu benutzen pflegte. Doch wer räumt schon gerne ein, dass er schwache Nerven hat? Ein großes US-Nachrichtenmagazin drückte neulich per Karikatur auf der Titelseite jene Stimmung aus, die Tausende in die Risiko-Spekulation treibt. "Alle werden reich, nur ich nicht!", grübelte auf dem "Newsweek"-Cover ein verstört dreinblickender Mittdreißiger.

So ist das derzeit in den USA. Niemand will sich die Teilhabe am Boom durch die Lappen gehen lassen. Dass Day-Trading so ziemlich die riskanteste Weise ist, es zu versuchen, das hat Mark Barton auf drastische Weise markiert. In seinem Abschiedsbrief hat er geschrieben: "Ich plane nicht, noch lange zu leben, nur lange genug, um so viele wie möglich von jenen zu töten, die aus Gier meinen Untergang betrieben haben."

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