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© dpa

Nach der Erdbeben-Katastrophe: Haiti: Einsatz bis zum Umfallen

Ärzte arbeiten bei Kerzenlicht, Rettungskräfte bergen fast nur noch Tote – Eindrücke aus der geschundenen Stadt Port-au-Prince.

Es fehlt an allem: Schmerzmittel, Spritzen, Verbandsmaterial, Handschuhe, Schutzmasken. Auch Ärzte werden dringend gesucht. Die Erdbeben-Opfer in Haiti warten verzweifelt darauf, medizinisch versorgt zu werden. „Jeder Chirurg, jeder Arzt ist uns mehr als willkommen“, sagt Rachel Fanfantlissade, die an einer privaten Klinik in Port-au-Prince beschäftigt ist. „Wir wissen nicht wohin vor Arbeit, die Menschen flehen um Hilfe.“ Es gibt keinen Strom in der Hauptstadt, Fanfantlissade und ihre Kollegen müssen improvisieren. Angehörige von Opfern halten Kerzen hoch, um den Ärzten bei der Behandlung zu Licht zu spenden. „Auf so etwas waren wir nicht vorbereitet“, sagt die Medizinerin. Seit dem Beben am Dienstag sind die Mitarbeiter der Klinik ununterbrochen im Einsatz.

In dem kleinen Warteraum der Privatklinik drängen sich die Menschen. Eine Frau blutet stark aus dem Bein, auf dem Boden bildet sich eine Blutlache – niemand hat Zeit, den Boden zu reinigen. Noch mehr Haitianer stehen vor der Tür und warten darauf, in die Klinik zu kommen. Manche sitzen in Autos, andere bleiben auf der Straße.

Im Krankenhaus Eliazar Germain arbeitet das medizinische Personal ebenfalls ohne Pause. Allein am Dienstag kamen mehr als 500 Patienten, und der Strom der Hilfesuchenden reißt nicht ab. Es gibt zwar einen Operationssaal, doch weil kein Chirurg da ist, wird er nicht genutzt. Die Abteilung für Gynäkologie ist zur Leichenhalle umgewandelt worden, immer mehr Tote werden gebracht.

Vor dem Tor zu dem völlig zerstörten Hotel Montanao drängen sich zahllose Menschen, die verzweifelt auf Nachrichten über vermisste Angehörige und Freunde warten. Philippinische Soldaten der UN-Mission Minustah sichern das Tor. Dahinter herrscht das Grauen. Gerade wurde wieder ein schwarzer Plastiksack mit einer Leiche heraustransportiert. Die Zufahrt des einstigen Luxushotels musste zunächst von schweren Betonteilen und Schutt befreit werden. Häuser waren von einem steilen Hang auf die Straße hinabgestürzt.

Drei Rettungsmannschaften aus den USA, Kolumbien und Frankreich sind mit ihren Hunden in dem Trümmern des vor allem bei Ausländern beliebten Hotels im Einsatz. Am Freitag hatten Suchtrupps noch 23 Menschen lebend aus dem Schutt bergen können. Wie Bergsteiger klettern die angeseilten Retter über die meterhohen Trümmer. Mittlerweile suchen sie nach Leichen – sie glauben nicht mehr daran, noch weitere Überlebende zu finden.

Die Kolumbianer, verschwitzt und müde, machen eine Pause, ihre drei Hunde sind völlig erschöpft. „Es ist die schrecklichste Katastrophe, bei der ich bisher im Einsatz war“, sagte Rene Oliver Molina. „Das Ausmaß ist unvorstellbar.“ Nur wenige Meter entfernt ist eine etwa 40 Zentimeter dicke und wohl tonnenschwere Decke herabgestürzt. Es war die Terrasse über der Bar. „Mindestens drei Personen liegen dort“, sagt ein Kollege Molinas. Endlich schaffen es die Kolumbianer, einen leblosen Körper unter den Trümmern hervorzuziehen. Sie bedecken ihn mit einem weißen Tuch. Die Retter schätzen, dass unter den Betonmassen noch bis zu 200 Tote sind.

Immer noch stehen viele Menschen vor eingestürzten Gebäuden und hoffen, dass ihre Angehörigen wenn nicht lebend, so doch wenigstens tot geborgen werden. Zwischen Betonteilen ragen Hände, Arme oder Beine heraus. Schweres Räumgerät ist meist nicht vorhanden. Im Norden von Port-au-Prince sollen Tausende eingesammelte Leichen in einem Massengrab beigesetzt worden sein. An einigen Stellen in der Hauptstadt werden angeblich auch Leichen verbrannt.

Viele Menschen sind traumatisiert. Sie trauen sich nicht mehr, für längere Zeit in Häusern zu sein, auch wenn diese unbeschädigt sind, und haben sich in Parks geflüchtet. So wie Jeanty Edrice. „Wir haben nichts mehr, nur noch die Familie“, sagt die Frau. „Wir haben keine andere Möglichkeit, als erstmal hier im Park zu bleiben.“ Kesner Lomikus, Angestellter eines Supermarktes, steht mit Freunden mitten auf einer Straße. Die Anwohner haben den Asphalt aufgehackt und eine Wasserleitung angezapft. „Wir hoffen, dass die Menschen in der Welt und ihre Regierungen jetzt uns, und nicht unserer Regierung helfen“, sagt Kesner. „Seit Dienstag leben wir auf der Straße, und noch niemand von der Regierung war hier, um nach uns zu sehen und zu fragen, wie es uns geht.“

Die Gläubigen zieht es noch immer zur großen Kathedrale in Port-au-Prince, auch wenn das verheerende Erdbeben kaum noch etwas von der Pracht des einstigen Wahrzeichens übrig gelassen hat. Nun steigen die Gemeindemitglieder über Trümmer, sammeln aus Bibeln und Gesangbüchern herausgerissene Seiten aus dem Schutt - nur um etwas in der Hand zu haben, Halt zu finden, Trost vielleicht. Nur wenige Meter weiter liegen Dutzende Leichen auf dem Gehweg. Einige der in der Wärme aufgedunsenen Körper sind mit Tüchern oder Pappe abgedeckt, andere liegen bloß da. Der Geruch des Todes liegt in der Luft und macht hier wie in weiten Teilen der Hauptstadt das Atmen schwer. Dieser süßlich, fast klebrige Verwesungsgeruch scheint in den Körper der Lebenden einzudringen. Atemmasken sind deshalb ein wertvolles Gut, doch sie sind schwer zu bekommen - wie alles in dieser vom Schicksal und der Naturgewalt so schwer geschundenen Stadt. (dpa)

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