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Aufgebrachte Mütter. Familien demonstrieren in Tokio vor dem Hauptquartier von Tepco, der Betreiberfirma der havarierten Atommeiler in Fukushima. Sie wissen nicht mehr, welche Produkte im Supermarkt sie kaufen können, ohne ihren Kindern zu schaden. Den Ausfall von Klimaanlagen nehmen sie eher gelassen hin.

© dpa

Nach Fukushima: Japans Bevölkerung im Dunkeln gelassen

Kein Joghurt, verseuchte Erde im Sandkasten, die U-Bahn ohne Licht: Wie sich der Alltag in Tokio seit Fukushima verändert hat. Viele Japaner sind entsetzt und enttäuscht, wie schnell die Verantwortlichen im Land bereit sind, Dinge zu vertuschen.

Chiaki Yamada durchforstet die Regale des Supermarktes „Summit“ im Tokioer Stadtteil Setagaya-ku. Yoghurt? Kommt ausschließlich aus den kritischen Regionen rund um das Atomkraftwerk. Yoghurt ist schon lange vom Einkaufszettel der Mutter zweier Kinder gestrichen. Milch? Nur die aus Hokkaido landet im Einkaufswagen, die gilt als sicher. Gurken und frischer Salat? Lieber die Finger weg. Sie stammen fast alle aus der Kanto-Region, also aus Tokio und den umliegenden Präfekturen.

Yamada lächelt, ein Tapferkeitslächeln. „Kompliziert wird es bei Käse“, sagt sie. Auf der Verpackung steht nur, wo er verarbeitet wurde. „Ich habe beim Hersteller angerufen und nachgefragt, woher die Zutaten stammen.“ Bei diesem Produkt kommen alle aus Hokkaido. Das hat sie beruhigt. Alltag einer japanischen Mutter, die besorgt ist wegen der möglichen Verstrahlung von Lebensmitteln. Und sie ist nicht die einzige.

Auf den ersten Blick ist das Leben in Japans Hauptstadt, rund 240 Kilometer vom zerstörten Atomkraftwerk Fukushima-Daichi entfernt, zur Normalität zurückgekehrt. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Noch mehr als die nahezu täglichen Erdbeben beschäftigt die Menschen das Thema Radioaktivität, auch wenn nur wenige darüber reden. In Lebensmitteln wie Spinat, Pilzen, Bambussprossen, Tee, Pflaumen, Fisch und Milch aus Fukushima und angrenzenden Regionen wurden unzulässig hohe Radioaktivitätswerte gemessen.

Anfang Juli erst gaben die Tokioter Behörden bekannt, dass erstmals seit April wieder niedrige Dosen radioaktives Cäsium-137 im Kranwasser der Hauptstadtbewohner enthalten sind. Davor war es verseuchtes Weideland, 60 Kilometer von Fukushima entfernt, auch verseuchter grüner Tee aus der Präfektur Shizuoka wurde kürzlich entdeckt, die noch südlich von Tokio liegt. Die Regierung behauptet, verstrahlte Produkte kämen nicht mehr in den Handel. Doch es gibt erhebliche Zweifel daran, dass das stimmt. Die Nachrichtenagentur Bloomberg etwa zitiert unwidersprochen einen Offiziellen der japanischen Sicherheitsbehörden mit Namen Taku Ohara. Er sagt, es gebe kein zentrales Prüfsystem, kleine Farmen würden überhaupt nicht getestet. „Es sind einfach zu viele.“

Tokio, ein Moloch mit etwa 17 Millionen Einwohnern, liegt in diesen Tagen unter einer feuchten Dunstglocke versteckt, die viel Regen bringt, aber wenig Abkühlung. Das Thermometer zeigt 32 Grad bei 80 Prozent Luftfeuchtigkeit. Bereits kurze Wege im Anzug oder im Kostüm werden zur Qual. Das sind Japaner gewöhnt. Aber dieses Jahr ist alles anders.

In den U-Bahnen beginnt bereits die Fassade der Normalität zu bröckeln. Die Klimatisierung ist heruntergefahren, die früher extreme Abkühlung fehlt. Tokio muss Strom sparen, denn der bevorstehende Sommer droht in Teilen des Landes die Kapazitäten der Kraftwerke zu überfordern. Nicht nur die Meiler in Fukushima wurden nach dem Super-Gau heruntergefahren. Insgesamt liegen zurzeit 35 der 54 Kernkraftwerke still. Es gibt Streit zwischen Zentralregierung und lokalen Politikern, ob die Meiler sicher genug sind, um wieder hochgefahren zu werden.

Um Abhilfe gegen die Hitze zu schaffen, hat die Regierung mittlerweile die Zeit des „Super Cool Biz“ ausgerufen. Wer will, darf nun auch in Poloshirt und Sneakers ins Büro kommen, dafür werden Räume und Bahnen nur noch auf 28 Grad heruntergekühlt. Kaum jemand in der von Konformität lebenden japanischen Gesellschaft wagt sich jedoch an dieses staatlich erlaubte Entkleiden.

Doch wenn es um die Sorge vor radioaktiver Verstrahlung geht, nehmen sie das nicht mehr hin. In der Präfektur Chiba, an der Grenze zu Tokio, haben besorgte Eltern vor kurzem angefangen, ihre eigenen Messungen durchzuführen, berichtet die japanische Zeitung „Yomiuri“. Hier hat auch die Japanerin Yuki Sasaki ihre Tochter im Kindergarten. Dort haben die Verantwortlichen kurzerhand die Erde abgetragen, weil sie mit 0,52 Microsievert pro Stunde oder 4,55 Millisievert pro Jahr weit über dem für Menschen zulässigen Jahreslevel von einem Millisievert lag. In der Präfektur Saitama ist mittlerweile das einzige ausleihbare Strahlen-Messgerät bis Ende August ausgebucht.

Lesen Sie auf Seite zwei, wie auch in Tokio wieder Strahlen gemessen werden.

In einem minimal beleuchteten U-Bahnhof zeigt eine Tafel an, auf wie viel der Stromverbrauch reduziert wurde.
In einem minimal beleuchteten U-Bahnhof zeigt eine Tafel an, auf wie viel der Stromverbrauch reduziert wurde.

© afp

Auch in Tokio selbst wird wieder gemessen. Seit wenigen Tagen lässt die Bezirksregierung 100 verschiedene Punkte in der Stadt untersuchen – und diesmal auch in Bodennähe prüfen. Bislang gab es nur einen einzigen Messpunkt, der 18 Meter über der Erde lag. Die neuesten Messungen zeigen bisher keine erhöhten Werte.

Das bestätigt auch Jan Beranek. Beranek ist Tscheche, ein großer Mann mit hartem Akzent, wenn er Englisch spricht. Er ist Strahlenexperte bei Greenpeace, er hat Tschernobyl gesehen, nun ist er von Fukushima nach Tokio gekommen, stets sein Dosimeter am Körper. Er sagt: Nein, in Tokio führe Greenpeace keine Messungen durch. Aber sein Dosimeter zeige ihm, dass die Strahlung in der Atmosphäre hier in Ordnung sei.

Er sagt aber auch: „Bei der Nahrung, da müssen Sie höllisch aufpassen.“ Verseuchte Lebensmittel durch Essen direkt in den Körper zu bringen, das sei ganz besonders gefährlich, noch schlimmer als das Einatmen von strahlenden Staubpartikeln. Und glaubt man ihm und anderen Experten, ist die Chance, Lebensmittel aus den betroffenen Regionen im Nordosten Japans unbewusst zu konsumieren, ziemlich groß.

Fast 1,7 Millionen Farmen gibt es in ganz Japan. Bisher wurden laut der Nachrichtenagentur Bloomberg 4850 Tests in 22 Präfekturen durchgeführt. Diese Tests aber seien freiwillig. Auch das französische Institut CRIIRAD, das im Auftrag der Nichtregierungsorganisation „Projekt 47“ Messungen in Fukushima vorgenommen hat, kommt zu traurigen Ergebnissen. Wenn geprüft wird, dann lückenhaft. „Die Prüfungen laufen so ab, dass von einem Lebensmittel eine Stichprobe genommen wird“, erzählt Bruno Chareyron, Kerntechniker und Chef von CRIIRAD. „Ist diese in Ordnung, dann darf die gesamte Region dieses Lebensmittel verkaufen.“

Kann man unter diesen Umständen radioaktiven Lebensmitteln im Alltag überhaupt entfliehen? Das Beispiel von grünem Tee aus Shizuoka gibt jenen recht, die diese Frage verneinen und nur noch ihren eigenen Informationen vertrauen. Vor wenigen Tagen wurden in diesem Tee, einem der Exportschlager Japans, unzulässig hohe Cäsium-Werte gemessen. Der Gouverneur der Region wollte zunächst eine Untersuchung verhindern. Als das nicht klappte, versuchte er vergeblich, das Veröffentlichen der Ergebnisse zu unterbinden. Viele Japaner sind entsetzt – zeigt es ihnen doch, wie schnell auch in ihrem Land die Verantwortlichen bereit sind, Dinge zu vertuschen.

Seit dem Super-GAU sind Importe aus aller Herren Länder nach oben geschnellt. Japan, das sowieso das Gros aller Lebensmittel importiert, führt nun noch mehr ein. Fleisch, Gemüse aus Amerika, Meerestiere aus Südostasien. Ausgerechnet die Region um das Atomkraftwerk galt als Gemüse-, Reis- und Kornkammer Japans. Auch die Fischerei dort ist ruiniert, seit der Kraftwerksbetreiber Tepco tausende Tonnen radioaktiv verseuchtes Kühlwasser ins Meer leitete.

Japan verzeichnet im Tourismus-Geschäft momentan einen Rückgang um etwa 50 Prozent, viele Flieger sind nicht ausgebucht. Die Hotels haben reihenweise Zimmer frei. Hysterie oder berechtigte Sorgen? Nach Ansicht vieler japanischer Familien ist Tokio selbst für Japaner derzeit keine sichere Stadt.

Abends leuchtet die Hauptstadt weniger grell als früher. An vielen Bahnhöfen, in vielen Geschäften ist jede zweite Neonröhre herausgeschraubt. Die allgegenwärtigen Getränkemaschinen funktionieren, aber sie blinken nicht mehr aufgeregt, ihre Drinks sind nicht mehr eiskalt. Aber über all das klagen die Japaner nicht, auch nicht leise, im kleinen Kreis. Über solche Dinge kommen sie mit dem ihnen eigenen Fatalismus hinweg. „Shikataganai“, sagen sie dann - da kann man nichts machen.

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