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Panorama: Nach Vergewaltigung verheimlichte ein türkisches Mädchen die Schwangerschaft - der anatolische Ehrenkodex kostete die 15-jährige das Leben

Das Urteil des Familienrats war eindeutig. Die erst 15-jährige Muhbet Cengiz hatte ein Kind zur Welt gebracht und das Baby aus Angst vor ihren Verwandten getötet - deshalb musste sie nun selber sterben.

Das Urteil des Familienrats war eindeutig. Die erst 15-jährige Muhbet Cengiz hatte ein Kind zur Welt gebracht und das Baby aus Angst vor ihren Verwandten getötet - deshalb musste sie nun selber sterben. Ein Bruder Muhbets wurde mit dem Geschwistermord beauftragt. Das Mädchen sei regelrecht "hingerichtet" worden, schrieb die Zeitung "Sabah". Dagegen spricht die Familie von Selbstmord. Tatsache ist, dass die Angst Muhbets vor ihren engsten Verwandten unbeschreiblich groß gewesen sein muss - und dass die anatolische Familienehre wieder ein Opfer gefordert hat.

Das Mädchen aus einem Dorf bei dem südostanatolischen Batman wurde vergewaltigt, ging später aber freiwillig eine Beziehung mit dem Mann ein. Als die 15-Jährige schwanger wurde, versuchte sie ihren Zustand vor ihren Angehörigen zu verheimlichen. Nur ihre ältere Schwester zog das Mädchen ins Vertrauen und brachte mit ihrer Hilfe ihre Tochter zur Welt. Die Furcht, von der sittenstrengen Familie für den Verlust ihrer Jungfräulichkeit bestraft zu werden, steigerte sich bis zur Todesangst. Deshalb setzte Muhbet ihr Baby in einem Blechkanister auf einem einsamen Acker aus. Am nächsten Tag verscharrte sie den Leichnam des Säuglings.

Trotz aller Versuche zur Geheimhaltung verbreiteten sich schnell Gerüchte. Schließlich trat der aus den männlichen Mitgliedern der Sippe zusammengesetzte Familienrat zusammen und beschloss sein Urteil. Der erste Versuch der "Vollstreckung" scheiterte aber. Als einer der Brüder Muhbets, Necmettin Cengiz, mit der schweren Jagdflinte seines Vaters abdrücken wollte, klemmte das Gewehr. Deshalb erhielt einen Tag später ein anderer Bruder des Mädchens, Mirze Cengiz, den Mordauftrag, den er auch ausgeführt haben soll.

Die Familie meldete den Tod Muhbets dem Dorfvorsteher als Selbstmord. Doch der Bürgermeister wurde misstrauisch und schaltete die Polizei ein. In den Verhören der festgenommenen Verwandten Muhbets tauchte inzwischen laut "Sabah" eine weitere Version der Ereignisse auf. Die Familie habe von Muhbet den Namen des Kindsvaters erfahren wollen und ihr deshalb mit der Flinte Angst eingejagt. Dabei habe sich ein Schuss gelöst.

Was auch immer tatsächlich geschehen sein mag: Das tragische Schicksal Muhbets verdeutlicht, wie stark die Rolle des Ehrbegriffs, "Namus", in der türkischen Provinz nach wie vor ist. Trotz der Einführung europäischer Rechtsnormen durch das Parlament in Ankara und trotz der Ausrichtung des Landes auf die EU gilt in vielen Dörfern Anatoliens weiterhin, dass die "Ehre" der Familie sich über das sexuelle Wohlverhalten ihrer weiblichen Mitglieder definiert und vom männlichen Haushaltsvorstand notfalls bis in den Tod verteidigt werden muss.

Immer wieder wird die türkische Öffentlichkeit durch spektakuläre Fälle von Selbstjustiz dieser Art an die Macht der Tradition in vielen Landesteilen erinnert. So sorgte vor zwei Jahren ein junges Mädchen aus Ostanatolien für Schlagzeilen. Sie sollte von ihrer Familie im Fluss Tigris ertränkt werden, weil sie den von ihren Verwandten ausgesuchten Ehemann nicht heiraten wollte und statt dessen ihren Freund geehelicht hatte. Das Mädchen konnte sich nach dem Mordversuch schwimmend ans Ufer retten.

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