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Panorama: Nachrichten aus der Provinz

Eine Zeitung, die gar nicht gedruckt wird, erinnert Amerika an die Not der vergessenen Landgemeinden um New Orleans

„The Big Easy“, die große Lässige, nannten die 480000 Bewohner von New Orleans ihre Stadt stolz und liebevoll. Jetzt ist sie zum Inbegriff der Hölle geworden – und wird Stunde um Stunde leerer. Unendliche Tage und Nächte waren die Menschen von der Flut eingeschlossen, es gab Schießereien, Vergewaltigungen, laut beweinte und viele stille Tode. Seit Freitag bringen Busse die Menschen weg – irgendwohin, nur fort. „New Orleans ist den Toten überlassen, die Stadt stirbt“, überschreibt die Lokalzeitung „The Times-Picayune“ ihren Wochenendaufmacher.

Nur ganz langsam wird sich die Nation jetzt bewusst, dass New Orleans zwar die Hölle war, aber nicht die einzige. Und dass die Überlebenden in der Stadt vielleicht nicht einmal das schlimmste Schicksal hatten. Auf sie schaut das ganze Land – ja die ganze Welt. Deshalb wuchs der Druck, endlich Hilfe zu schicken. Was aber ist mit all den Höllen rund um New Orleans, auf die keine Fernsehkameras blicken?

In Mandeville, einer Gemeinde auf der Nordseite des Pontchartrain-Sees, hat der Hurrikan ungezählte Häuser unter Bäumen und Fluten begraben. Auf die Interstate12, einige Meilen weiter nordwestlich, haben sich Menschen gerettet, die nicht wissen, wie sie heim in den Harrison-Landkreis kommen: Ist der Weg über Pearl River frei, muss man über Bogalusa und Wiggins ausweichen?

Kein Fernsehteam hat sie gefilmt, kein Radioreporter mit ihnen gesprochen. Woher weiß man von ihrem Schicksal?

Das ist eine weitere der kaum glaublichen Geschichten von Untergang und Heldentum in diesen Tagen: „The Times-Picayune“ ist das hochgeschätzte Lokalblatt im Großraum New Orleans – seit 1837. Den exotischen Namen verdankt es einer spanischen Münze; damals der Kaufpreis eines Exemplars. Oder muss man nicht sagen: Sie war die viel beachtete Stimme der Region? Was ist schon eine Zeitung wert, die nicht mehr gedruckt werden kann. Und doch wird „The Times-Picayune“ gerade jetzt weltweit zitiert – auch regelmäßig im Tagesspiegel. Das liegt nicht nur daran, dass die Redaktion 2002 eine preisgekrönte, sonst aber leider folgenlose Serie gedruckt hat, die diese Katastrophe ziemlich exakt vorhergesehen hat: „Weggespült“. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis New Orleans, bis Louisiana von einem Killerhurrikan erwischt werde, schrieben die Redakteure vor drei Jahren und breiteten in mehreren Folgen all die Faktoren aus, die die Stadt nun in ein Massengrab verwandelt haben.

Ihre Redaktionsräume in der Nähe des Superdome mussten die letzten Mitarbeiter am Mittwoch aufgeben. „The Times-Picayune“ aber erscheint weiter mit aktuellen Reportagen und praktischen Ratschlägen für Leser, zwar nicht mehr täglich gedruckt auf Papier, sondern im Internet unter www.nola.com – fast stündlich neu.

Sie ist zur wertvollsten Informationsquelle über die Zustände in den Landkreisen um New Orleans geworden – freilich nur für jene, die noch einen Computer und zeitweise Strom haben. Die Fakten liefern nun die Leser, per SMS und E-Mail. 11980 Nachrichten sind in dieser Woche aus St. Tammany eingelaufen, 4300 aus Mandeville, 8400 aus den „flussnahen Gemeinden“ am Mississippi. „Es ist heiß und schwül“ schreibt Ricky aus Mandeville. „Seit Stunden arbeiten wir uns durch den Vorgarten und haben noch nicht einmal ein Drittel geschafft. Aber es tut verdammt gut, wieder zu Hause zu sein. Im Home Depot verkaufen sie Blattsägen. Leute, bleibt bloß weg, wenn ihr könnt.“

Die Firma „Trinity Yachts“ bittet ihre Mitarbeiter, Kontakt zu dem nach Baton Rouge ausgelagerten Interims-Headquarter zu halten. Baldmöglichst will sie ihnen wieder Arbeit geben, einen Alltag ermöglichen. Schuldirektoren informieren, welche Schule zerstört ist und wo der Unterricht an diesem Dienstag wieder beginnen kann. Die Redaktion gibt Tipps, wie man nach vermissten Angehörigen fahndet, wie Menschen, die abseits der Routen der Hilfsorganisationen leben, an Trinkwasser kommen – haben sie an den Inhalt ihres Heißwasserboilers gedacht? – oder wo man Wiederaufbauhilfe beantragt.

„Da wir merken, dass alle Hilfe in die Küstengemeinden fließt“, schreiben Stephanie und Cindy aus Bogalusa, „haben wir eine Webseite eingerichtet, um unsere Selbsthilfe zu organisieren. Wir können kaum damit rechnen, dass Hilfe in nächster Zeit auch zu uns kommt.“

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