zum Hauptinhalt
Das halbierte Haus. Noch immer ist der Boden der ganzen Gegend instabil.

© ddp

Nachterstedt: Als die Erde ins Rutschen geriet

Vor einem Jahr brach in Nachterstedt der Boden ein – die Ursache ist bis heute nicht geklärt. Am Sonntag gedachten mehrere hundert Menschen der Opfer des folgenschweren Erdrutsches.

Es war Ruhe eingekehrt, hier in Nachterstedt im Salzlandkreis. Aber jetzt, ein Jahr nach dem Unglück, kommen die Journalisten zurück und wühlen die Erinnerungen wieder auf. Wie geht es Ihnen heute? Warum sind Sie nicht fortgezogen? Wie ertragen Sie die Erinnerungen und die Angst, dass so etwas noch einmal passieren könnte?

Heidrun Meyer beantwortet die Fragen wieder und wieder. Und versucht, einen optimistischen Eindruck zu machen. „Wir müssen nach vorne denken.“ Sie ist Bürgermeisterin der Stadt mit dem romantisch-idyllisch klingenden Namen Seeland, die sich rund um den Concordia-See aus den Ortsteilen Hoym, Frose, Schadeleben, Friedrichsaue und eben Nachterstedt zusammensetzt.

Nach vorne denken. Das treibt den Einwohnern Sorgenfalten auf die Stirn. Denn von seinen Zielen ist der Ort denkbar weit entfernt. Nachterstedt sollte sich als Naherholungsgebiet einen Namen machen: Der ehemalige Braunkohletagebau war auf dem Weg zu einem Wassersportzentrum im Herzen Deutschlands. Ein See zum Segeln, Windsurfen, Kiten. Und am Ufer hübsche Ferienhäuser. Mit den zweieinhalb Millionen Kubikmetern Erde sind vor einem Jahr auch diese Pläne weggerissen worden.

Vor einem Jahr sind in Nachterstedt in Sachsen-Anhalt drei Menschen ums Leben gekommen. Ein Erdrutsch hatte ein Zweifamilienhaus und ein weiteres zweistöckiges Gebäude zur Hälfte mit in die Tiefe gerissen. Die Bilder von dem Unglück – die scharfe Abbruchkante mit den Häusern am Abgrund – gingen um die Welt. Die Wunden, die das Ereignis hinterlassen hat, sind bis heute nicht verheilt.

Am Sonntag haben mehrere hundert Menschen der Opfer des folgenschweren Erdrutsches gedacht. In der voll besetzten Kirche St. Nicolai erinnerte Pfarrer Holger Holtz an jene drei Anwohner, die vor genau einem Jahr ihr Leben bei dem Unglück verloren hatten. In seiner Predigt verwies er auch auf die große Spendenbereitschaft in allen Teilen Deutschlands, die das Leid der Betroffenen mildern sollte.

Auch abseits des Gedenkens versucht die Bürgermeisterin tapfer, die Gemeinde wieder aufzurichten. „Wir befinden uns in einem Tal, da müssen wir durch“, sagt Heidrun Meyer. Zunächst habe man die komplette Planung auf den Prüfstand gestellt und dann neue Wege gesucht. Einen neuen Radwanderweg soll es geben und einen Informationspavillon am Parkplatz des Abenteuerspielplatzes in Schadeleben, dem mit 80 000 Quadratmetern größten Spielplatz in Sachsen-Anhalt. „Das Seeland lebt“, sagt Heidrun Meyer. „Hier herrscht kein Stillstand.“

In Nachterstedt ist nichts mehr wie früher. Eine Sicherheitsfirma bewacht die Straße, die zur Abbruchstelle führt. Der See mit seiner Ufer- und Böschungszone ist noch immer gesperrt. Malerisch liegt er in der Sonne, weit und breit ist kein Mensch. Kein Kind, das eine Sandburg baut oder im Wasser planscht. Das Ausflugsschiff „Seeperle“, das vor dem Unglück Ausflügler übers Wasser schipperte, wurde verkauft. Heidrun Meyer will ein neues kaufen, wenn der See wieder freigeben ist. Wann das passiert? Das steht in den Sternen.

Die vom Unglück betroffenen Familien wurden finanziell entschädigt. Die Hälfte der 42 Bewohner der Siedlung „Am Ring“, die ihr Hab und Gut verloren haben und nicht mehr in ihre Häuser können, leben nach wie vor in Nachterstedt. Ein neues Wohngebiet soll für sie erschlossen werden. Für die Sanierungsarbeiten an der Unglücksstelle, Entschädigungs- und Nothilfeleistungen für die ansässigen Unternehmen, haben Bund und Land ein millionenschweres Hilfspaket beschlossen.

Doch bisher ist nicht einmal die Unglücksursache klar. Ende 2011 wird ein Ergebnis vorliegen, schätzt Bergbau-Experte Michael Clostermann aus Dortmund. Er wurde von der Landesregierung als Gutachter eingesetzt. Seine bisherigen Erkenntnisse zeichnen kein hoffnungsvolles Bild. Der Boden sei instabil, es habe weitere Verschiebungen an der Abbruchkante und an der Böschung gegeben. „An der Gefährdungslage hat sich nichts geändert. Sie ist immer noch groß.“ Der Boden ist unberechenbar.

Am Sonntag wurde in Nachterstedt auch ein Denkmal enthüllt. Die abstrakte Skulptur soll fortan an das Unglück erinnert. Viele Nachterstedter sind gar nicht so glücklich darüber. Als ob sie nicht sowieso jeden Tag daran denken würden. Und eigentlich lieber ein bisschen vergessen wollen.

Dana Toschner, Mathias Kasuptke

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false