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Panorama: Neue Bluttat an US-Schule: Lächelnd schoss er in die Menge

Vier Mal lud er nach. Mindestens 30 Schüsse feuerte er ab.

Vier Mal lud er nach. Mindestens 30 Schüsse feuerte er ab. Kurz zuvor hatte die Schulglocke das Ende der ersten Pause eingeläutet, die Jugendlichen waren auf dem Weg in ihre Klassenzimmer. Offenbar wahllos zielte der 15-jährige Charles Andrew Williams, genannt Andy, auf alles, was sich bewegte. Währenddessen soll er gelächelt haben. Mehrere Minuten lang feuerte er herum, zuerst auf der Jungstoilette, dann aus der Toilettentür heraus in die Gänge und schließlich auf dem Flur. Nachdem er zwei Schüler erschossen und 13 weitere Menschen verwundet hatte, darunter einen Hilfslehrer und einen Aufseher, ließ Andy sich widerstandslos festnehmen. Zu einem Polizisten, der nach Komplizen suchen wollte, sagte er beruhigend: "Ich bin allein."

Wie allein ist ein Teenager, der zum Mörder wird?

Auch am Tag danach gibt es tausend Gründe für die Tat, aber keine Erklärung. Andys Eltern waren seit zehn Jahren geschieden, seitdem lebte der Junge bei seinem Vater, von dem auch die Tatwaffe stammt. Vor einem Jahr waren sie von Maryland nach Kalifornien gezogen. Santee ist ein Vorort von San Diego, eine große, ruhige Schlafstadt. Etwa 60 000 überwiegend weiße Mittelstandsfamilien wohnen hier. Die Kriminalitätsrate gehört zu den niedrigsten in ganz Kalifornien. "Hier ist es vor allem langweilig", sagen die Schüler der Santana High School. Doch ausgerechnet dort geschah das Verbrechen, das bis ins Detail an die Serie von Schulmassakern erinnert, die vor wenigen Jahren noch die Nation schockierten. Ein Fall hat sich besonders ins Gedächtnis eingebrannt: Im April 1999 wurden an der Columbine High School in Littleton (Colorado) zwölf Schüler und ein Lehrer ermordet.

Andy selbst wird sehr unterschiedlich charakterisiert. Viele sagen, er soll oft gehänselt worden sein, er sei ein Außenseiter gewesen, ein Schlüsselkind, das regelmäßig bei Freunden gegessen und übernachtet habe. Er war nicht sehr kräftig, eher dürr und blass, und ging Auseinandersetzungen aus dem Weg. Andere sagen, Andy sei durchaus beliebt gewesen. "Ich mochte ihn", sagt ein 13-jähriges Mädchen. "Wir haben den ganzen Samstagabend zusammen verbracht, haben über alles Mögliche geredet und gelacht." Dabei soll er eine Packung Zigaretten nach der anderen geraucht haben. Meistens habe Andy fröhlich gewirkt.

Sie dachten, sie seien im Film

Die beiden waren allerdings nicht alleine am vergangenen Wochenende. Mit fünf anderen Freunden verbrachten sie den Sonntag im Haus der Familie Reynolds. Dort soll Andy seine Tat bereits angekündigt haben. Angeblich sei er durch ein Lied inspiriert worden. Doch keiner nahm ihn ernst, seine Freunde nicht, die Eltern seiner Freunde nicht. "Der hat doch andauernd über alles mögliche gequatscht", erinnert sich der 17-jährige Andrew Kaforey. "Er wollte auch ein Auto klauen und nach Mexiko fahren." Andrews jüngerer Bruder Jacob ergänzt: "Andy hat immer alles gesagt, von dem er glaubte, dass es cool sei." Alle glaubten, er mache Witze. Ein Freund tastete ihn sogar am Montag noch aus Spaß nach einer Waffe ab.

Die meisten Jugendlichen kündigen ihre Verbrechen an. "Sie brauchen ein Ventil für ihre Ängste, ihre Frustrationen, ihren Ärger und ihre Fantasien", sagt Paul Mones, der ein Buch darüber geschrieben hat ("When a Child Kills", Simon & Schuster). "Bis ins Detail reden Kinder über ihre Pläne. Sowohl die spontane Tat als auch die Geheimhaltung, wie sie bei erwachsenen Verbrechern üblich ist, sind bei ihnen die Ausnahme."

Auch Christopher Reynolds, in dessen Haus die Jugendlichen am vergangenen Wochenende waren, hatte von Andys Plänen gehört. "Ich habe ihn daraufhin ausdrücklich zur Rede gestellt", sagt Reynolds, "aber der Junge hat sofort alles abgestritten. Jetzt bereue ich es natürlich, dass ich nichts unternommen habe. Dieses Gefühl wird mich noch eine ganze Weile begleiten."

Fast 2000 Jugendliche besuchen die Oberschule in Santee. Auch für die Direktorin, Karen Degischer, war der Montag ein Albtraum. Dabei war sie eigentlich bestens vorbereitet. Erst vor kurzem waren 180 000 Mark in Vorbeugemaßnahmen investiert worden. Sogar ein Kommunikationssystem war entwickelt worden, mit dem gewalttätige Drohungen umgehend gemeldet werden. "Es klingt, als hätte die Schule alles so gemacht, wie es im Lehrbuch steht", sagt anerkennend June Arnette vom Nationalen Zentrum für Schulsicherheit. Letztlich lief nur die Evakuierung der Schüler nach Plan.

Sechs Minuten, nachdem Andy seinen ersten Schuss abgefeuert hatte, war die Polizei am Tatort. Die Waffe, einen 22.Kaliber-Revolver, hatte er in einem Rucksack ins Schulgebäude gebracht. "Rennt! Rennt so schnell ihr könnt", riefen die Polizisten den Schülern zu. Viele von ihnen beschreiben die Atmosphäre im Nachhinein als "surreal" oder "wie im Film". Auch der 14-jährige Kyle Wallingford lief einfach los, bis er draußen auf dem Hof war. "Ich sah, wie ein Schüler auf dem Boden lag und Blut spuckte. Außerdem schien sein linker Oberarm verwundet worden zu sein. Doch als erstes fragte ich mich, ob der Schüler womöglich nur wie ein Schauspieler auf eine dieser Kapseln mit roter Farbe gebissen hatte."

Tausend Gründe, keine Erklärung. Nach seiner Verhaftung soll Andy sehr viel geredet haben, sagt der zuständige Bezirksstaatsanwalt Paul Pfingst. "Aber eine Antwort auf die Warum-Frage hat er nicht gegeben." Noch an diesem Mittwoch soll der Jugendliche wegen Mordes und Angriffs mit einer tödlichen Waffe angeklagt werden. Vor Gericht muss er sich als Erwachsener verantworten. Laut einem gerade erst per Volksentscheid verabschiedeten Gesetz liegt die Entscheidung darüber in Kalifornien nicht mehr bei einem Richter, sondern bei der Staatsanwaltschaft.

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