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Panorama: Neue Deutsche Welle

Bis zur Erschöpfung: Alle packen an. Und Tausende Jugendliche suchen sich Einsatzorte, an der Seite der Soldaten

Dresden. In den Hochwassergebieten haben sich viele Jugendliche als selbstlose Helfer in der Not erwiesen und damit die landläufigen Vorurteile widerlegt, sie seien nur an Party, Konsum, Karriere und sich selbst interessiert. Sie schleppten Sandsäcke, halfen alten und kranken Menschen, bargen Mobiliar und verteilten Hilfsgüter.

„Sind Sie der Einsatzleiter? Ich habe drei Stunden geschlafen und bin jetzt wieder fit für den nächsten Auftrag“, fragt ein Jugendlicher hastig einen Reporter, der zu nächtlicher Stunde den finsteren Theaterplatz in Dresden mit einer Taschenlampe inspiziert.

Der junge Helfer wirkt noch schlaftrunken. Als er aber vom Bau eines Dammes in der Münzgasse zur Frauenkirche erfährt, stürzt er Hals über Kopf zum nächsten Einsatzort. Solche Szenen spielen sich in Dresden und anderswo hundertfach ab. Wo immer Gefahr im Verzug war, packten Mädchen und Jungen von Anfang an tatkräftig zu. „Da wir schulfrei haben, war das für mich selbstverständlich“, sagt der 16-jährige Gymnasiast Robert. Er ist mit Freunden seit Tagen am Wasser unterwegs und hilft bei der Sicherung von Sandsack-Dämmen.

„Die meisten Leute sind nur Neugierige und machen Fotos oder Filmaufnahmen. Aber die Jugend packt zu“, schildert eine Rentnerin aus Dresden-Tolkewitz ihre Erfahrungen. Vom Gartenzaun aus habe sie das Geschehen genau verfolgt: „Die Jugendlichen waren die Besten.“ Beim Kampf gegen die Fluten kommt der Spaß aber auch nicht zu kurz. „Ich habe hier schon jede Menge coole Typen kennen gelernt“, erzählt die 17-jährige Anne von ihren Hochwasser-Erfahrungen. Über die vielen Gaffer kann sie sich nur wundern. „Möchte mal wissen, wie die buckeln würden, wenn ihr eigenes Haus betroffen wäre.“ Nicht selten waren die jungen Helfer mit ihrem Tatendrang aber auf sich allein gestellt. Übereinstimmend berichten viele, dass selbst mehrmalige Anrufe bei der Stadtverwaltung wenig Aufklärung brachten, wohin sie sich bei Hilfseinsätzen wenden müssen. Die meisten machen sich auf eigene Faust auf und gucken, wo sie helfen können.

Überall, wo sie Familien sehen, die Sandsäcke stapeln, oder wo Bundeswehrsoldaten Deiche sichern, reihen sie sich ein.

Die Bundeswehrsoldaten arbeiten bis zur Erschöpfung. „Es ist tragisch, das Leid der Betroffenen aus unmittelbarer Nähe zu erleben. Das geht an die Substanz“, sagt ein 24-jähriger Berufssoldat. Der Kampf gegen das Hochwasser ist der größte Katastropheneinsatz in der Geschichte der Bundeswehr. 19 000 Bundeswehrsoldaten sind in den Krisengebieten im Einsatz. Es ist ein Einsatz zwischen totaler Erschöpfung und neuer Solidarität. Eine verschworene Gemeinschaft habe sich in Dresden mit den Ordensschwestern und den Ärzten des Diakonisten-Krankenhauses entwickelt, berichtet Oberstleutnant Klaus Geier. „Bis zur totalen Erschöpfung haben sie gegen das Wasser gekämpft. Als die Wasserfluten dann doch in das Haus drangen, waren die Jungs ungeheuer frustriert“, sagt Geier. „Kaum sank das Wasser, sind sie zurückgeflitzt und haben die Pumpen angeschmissen.“ Ein Einsatz, der an die Grenzen der körperlichen Belastbarkeit geht. „Wir haben hier tonnenweise Wasser, aber die Soldaten müssen aufpassen, dass sie bei der Hitze genügend Pause machen“, sagt Hauptmann Jochen Dehner. In der bislang größten zivilen Evakuierungsaktion räumen die Soldaten Kliniken in den Hochwassergebieten und fliegen die verängstigten Patienten in andere Krankenhäuser. Sie retten verzweifelte Menschen von den Dächern ihrer Häuser, schleppen Sandsäcke, sichern Dämme. Oder sie fliegen eine Melkanlage auf vom Hochwasser eingeschlossene Wiesen bei Dresden und Großenhain und retten damit 1600 Kühen das Leben.

„Wenn die ganze Sache etwas Positives hat, dann die: Wir sind wieder zusammengerückt, nachdem wir uns zehn Jahre lang auseinander gelebt hatten.“ Harald Claasen sitzt auf der Stoßstange eines Kleinbusses und schüttelt immer wieder den Kopf. Sein Haus war am Sonntag das erste in der kleinen Gemeinde Gauernitz zehn Kilometer vor Meißen, das nach dem rasanten Rückgang des Elbe-Wasserstands wieder begehbar wurde. Begannen zunächst zwei Freunde mit den ersten Aufräumarbeiten, waren es am Nachmittag unzählige Helfer jeden Alters.

„Ich kenne die doch gar nicht. Ich weiß nicht, wem ich Danke sagen soll“, sagt Claasen, erst seit ein paar Wochen wegen Invalidität Rentner. Fünf Schüler aus der neunten und zehnten Klasse der Mittelschule Scharfenberg tauchten auf, fragten, was zu tun sei, schnappten sich Hammer, Stemmeisen und Brechstangen und rissen in Windeseile die Fußbodendielen aus dem Wohnzimmer. Als dies getan war, zogen sie ins nächste Haus und räumten dort unbrauchbar gewordene Küchen- und Wohnzimmermöbel aus den Räumen, in denen die Elbe brusthoch ihre braune Spur hinterlassen hatte.

Was sich am Sonntagnachmittag in Gauernitz abspielte, ließ keinen kalt. Praktisch der ganze Ort war auf den Beinen, um in den Häusern anzupacken. Auch fremde Kennzeichen sah man an den heranrollenden Pkw und Lkw: Dresdner, Freiberger, Dippoldiswalder.

Andere kochten Kaffee, brachten selbst gebackenen Kuchen oder wischten die Räume aus. „Ich bin jetzt mit Leuten per Du, von denen ich in den 25 Jahren meiner Gauernitzer Zeit maximal das Gesicht kannte. Diese Gemeinschaft, diese Solidarität kann ich nicht in Worte fassen. Die Leute haben zugepackt, als ob es um ihr eigenes Hab und Gut ging“, sagt Claasen.

Entlang der Elbe kämpfen auch viele Schüler und Lehrer seit Tagen gegen das Jahrhunderthochwasser. Vielerorts fällt der Unterricht aus. Je nach Standort entscheidet der Träger der Bildungseinrichtung über eine Schulschließung. Im Gymnasium im Malzmühlenfeld in Schönebeck sind derzeit etwa 20 Schüler und rund 15 Lehrer im Einsatz. „Wir blasen Luftmatratzen auf und bringen Decken und Stühle in die Räume“, sagte Direktorin Susanne Pilz. Zwölf Klassenräume, die Aula und die Turnhalle werden für Hochwasseropfer vorbereitet. Studenten der Fachhochschule Magdeburg stapeln Sandsäcke, um ihren frisch sanierten Campus zu retten. Jörg Schurig/Gerald Fritsche (dpa)

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