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Eine Kindheit im Lager. Die ARD sendet am kommenden Mittwoch die Neuverfilmung von Bruno Apitz’ Roman „Nackt unter Wölfen“.

© MDR/UFA FICTION

Neuverfilmung "Nackt unter Wölfen": Das Kind aus dem Konzentrationslager Buchenwald

Kaum einer im Westen kennt den Roman „Nackt unter Wölfen“, im Osten kannten ihn fast alle. Nun zeigt die ARD die Neuverfilmung. Die erzählt nicht nur von der berührenden Rettung eines Dreijährigen, sondern auch vom fast vergessenen kommunistischen Widerstand im KZ.

Sommer 1944. Zwei Buchenwald-Häftlinge öffnen den Koffer eines polnischen Juden, der mit einem der Transporte, von denen jetzt so viele eintrafen, aus dem Osten gekommen war. Im Koffer lag ein kleiner Junge: „Beim Klang der polnischen Laute steckte das Kind sein Köpfchen vor wie ein Insekt, das die Fühler eingezogen hatte. Eine kleine, erste Lebensäußerung, für die beiden so unerhört erregend, dass sie dem Kind gebannt in die Augen starrten. Das schmale Gesicht hatte bereits den Ernst eines wissenden Menschen, und auf den Augen lag ein Glanz, der kein Kinderglanz war. Das Kind sah die Männer in stummer Erwartung an. Sie wagten kaum zu atmen.“

Fast 20 Jahre später, im Herbst 1963 saß der Holocaustüberlebende Zacharias Zweig in einem israelischen Kibbuz einer Ostberliner Jüdin gegenüber. Was sie sagte, hielt seine Welt an: Er, Zacharias Zweig, war berühmt! Und mehr noch, viel mehr noch war es sein Sohn, das Kind aus dem Koffer.

Millionen Menschen auf der ganzen Welt kannten inzwischen ihrer beider Schicksal oder nein, nicht das ihre. Sie waren zu Romanfiguren geworden.

Fünf Jahre zuvor, 1958, war im Mitteldeutschen Verlag Halle ein Buch erschienen, an das eigentlich niemand glaubte. Sein Autor hieß Bruno Apitz, er war so alt wie Zacharias Zweig, so alt wie das Jahrhundert, geboren am 28. April 1900. Bruno Apitz hat sein Leben von 1933 an in verschiedenen Konzentrationslagern verbracht. Ab 1937 gehörte er zu denen, die das KZ Buchenwald aufbauen mussten. Er hat es bis zu seiner Befreiung am 11. April 1945 nicht mehr verlassen. Bruno Apitz trug die Häftlingsnummer 2417 und das rote Dreieck der Politischen.

Geschichte der zwei leeren Stühle

Am kommenden Mittwoch um 20.15 Uhr zeigt die ARD „Nackt unter Wölfen“. Und viele Ostdeutsche können es kaum glauben: Eine bundesdeutsche Fernsehanstalt verfilmt das Buch eines kommunistischen Autors, das vom kommunistischen Widerstand handelt? Den gab es doch gar nicht mehr in den letzten 25 Jahren.

Es ist ein Märztag von durchsichtigem Blau, einer jener Tage, an denen man glaubt, dass jede Feindschaft am Ende doch nur ein Missverständnis sein müsse. Am Abend ist Filmpremiere in Weimar. Zwei Plätze bleiben fühlbar leer, dabei waren sie nicht einmal reserviert. Volkhard Knigge, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, ist nicht da, auch Stefan Jerzy Zweig, das „Buchenwaldkind“, von dem dieser Film handelt, ist nicht gekommen. Volkhard Knigges Abwesenheit ist erklärbar. Seit 20 Jahren kämpft er gegen „die Legende“ vom Buchenwaldkind. Aber warum fehlt Zweig?

Stefan Jerzy Zweig.
Stefan Jerzy Zweig.

© IMAGO

Zum letzten Mal sind sich Volkhard Knigge und Stefan Jerzy Zweig vor drei Jahren in einem Berliner Gerichtssaal begegnet. Zweig hatte ihn verklagt. Die Legenden müssen endlich aufhören!, sagte Volkhard Knigge. Ich bin keine Legende!, rief Stefan Jerzy Zweig, Sohn des Zacharias Zweig, dazwischen. Wie die Geschichte der zwei leeren Stühle erzählen?

Am nächsten Morgen ist der Himmel noch immer so zukunftsblau, die Stadt liegt dem früheren Konzentrationslager zu Füßen, und am linken Rand von Fritz Cremers Bronze-Häftlingsgruppe steht noch immer das Kind. Mag sein, Knigge schaut weg, wenn er zur Arbeit geht.

Bis Ende 1959 waren 200 000 Bücher verkauft

Fritz Cremer, Bildhauer, noch so ein Kommunist. Aber die Denkmalsgruppe einfach umzulegen war keine Option, schließlich steht eine von Cremers Figuren sogar vor dem UN-Gebäude in New York. Cremers Mahnmal und Apitz’ Buch verkörpern, was man nach 1990 begann, den „antifaschistischen Gründungsmythos der DDR“ zu nennen. Der Roman, ein weltanschauliches Auftragswerk also?

Mitte der 50er Jahre war Apitz bei der Defa unter Vertrag, als Autor für „zeitnah heitere Filme“. Doch was er auch vorschlug, alle seine lustigen Geschichten wurden abgelehnt. Schließlich schlug er noch eine letzte vor, nicht ganz so heiter, eigentlich gar nicht heiter. Und der erfolglose Autor erfuhr: „Ein Film, der nur im KZ spielt, ist in der Wirkung auf den Zuschauer von heute problematisch.“

Nr. 2417, gescheiterter Komödienautor, war jetzt Mitte 50, er konnte nicht mehr ewig auf sich warten, also beschloss er, diese Geschichte doch zu schreiben, und zwar als Auftragswerk im radikalsten Sinn: im Eigenauftrag. Der Schriftstellerverband der DDR bedauerte, ihn dabei nicht unterstützen zu können, denn dass die Talente dieses ohne Zweifel verdienstvollen Genossen auf literarischem Gebiet liegen könnten, schien ihm doch sehr unwahrscheinlich zu sein. Der Verband formulierte das nur etwas gewinnender.

Schließlich nahm der Mitteldeutsche Verlag das Manuskript. Und dann geschah es: Die erste Auflage von 10 000 Exemplaren war sofort vergriffen. Bis Ende 1959 waren

200 000 Bücher verkauft, bald war es in 25 Sprachen übersetzt und erlebte Millionenauflagen. Nur in Israel wusste man nichts von ihm.

Er wollte den Sohn im Rucksack verstecken, doch ihm fehlte die Kraft

Vielleicht ist es gut, dass Bruno Apitz 1979 gestorben ist und nicht mehr hören musste, was der heutige Leiter der Gedenkstätte Buchenwald über seinen Roman sagt. Er musste auch nicht mehr lesen, wie die Jüdin Ruth Klüger nach 1990 von den „Agitprop-Burschen“ schrieb, die in Buchenwald „das Schild vom geretteten Kind anbrachten“. Sie „infantilisierten, verkleinerten und verkitschten damit den großen Völkermord ...“, urteilte die Überlebende von Theresienstadt. Auch die Kunde des Buches „Die roten Kapos von Buchenwald“ des Jenaer Professors Niethammer erreichte Apitz nicht mehr. Der Verdacht: Waren die kommunistischen Häftlinge nicht die Erfüllungsgehilfen der SS? Vor allem aber blieb Bruno Apitz die Lektüre von Hans Joachim Schädlichs „Anders“ erspart, in dem der Autor zu dem Schluss kommt: „Die ostdeutschen Kommunisten haben Jerzy Zweig seine wahre Geschichte gestohlen.“

Der Bestohlene aber, das „Buchenwaldkind“, las. Stefan Jerzy Zweig las alles. Alles, was ihn durchstrich, aber mehr noch das Andenken seines Vaters und das seiner Lagerväter. Und dann verklagte er Knigge und Schädlich.

Sein Vater Zacharias Zweig hatte 1961, zwei Jahre, bevor die Kunde des Romans ihn erreichte, seine Geschichte und die seines Sohnes aufgeschrieben. Und die paradoxe, unglaubliche Leseerfahrung ist: Dieser Tatsachenbericht macht die Verdienste der kommunistischen Lagerselbstverwaltung fast noch größer als der Roman.

Ein Symbol des Widerstands

Es war kein Koffer. Zacharias Zweig wollte seinen Sohn bei der Ankunft in Buchenwald im Rucksack verstecken, doch nach der mehrtägigen Fahrt in der Augusthitze 1944 im Viehwaggon, ohne Wasser, ohne Nahrung, fehlte ihm die Kraft. So ging der dreijährige Stefan Jerzy Zweig an der Hand seines Vaters ins Lager: „ Man stellte uns in Fünferreihen auf. Als unter den SS-Männern bekannt wurde, dass sich im Transport ein Kind befinde, setzte bei ihnen großes Staunen ein.“ SS-Frauen liefen zum Tor und wollten das Kind sehen; Häftlinge schauten durch den Stacheldraht wie auf ein Wunder.

Sie gingen zum Badehaus. Schon hier sprach Zacharias Zweig ein Mann an, Willi Bleicher, der früher geheime Widerstandszellen der Stuttgarter Bäcker organisiert hatte und in Buchenwald mit an der Spitze der Internationalen Illegalen Komitees stand, das die Selbstbefreiung vorbereitete. Nach 1945 ging er nach Stuttgart zurück und wurde Gewerkschaftsführer. Zweig: „Wenn ein solches Kind bisher gerettet worden sei und ich es behüten konnte, sei es ein Symbol des Widerstands gegen Hitler und verdiene, gerettet zu werden. Übrigens verkörpere es für sie einfach das Leben.“ Er, der Vater, müsse in das „Kleine Lager“ zur Quarantäne, doch dort habe sein Kind keine Chance, sie würden es beschützen.

Zwei Wochen später konnte Zacharias Zweig zum ersten Mal seinen Sohn besuchen: „Ich traute meinen Augen nicht. Mein Kind war schön angezogen. Es trug einen extra für ihn zugeschnittenen und in den Werkstätten von Häftlingen genähten Anzug.“ Es spielte. Das Spielzeug hatten Häftlinge der SS-Munitionswerke hergestellt. Das Kind begrüßte ihn: „Tatus, co pan tutaj srobi? Vati, was machen Sie hier?“ Zacharias Zweig fühlte Freude und Schmerz zugleich. Auch darüber, dass sein Kind begann, Deutsch zu sprechen.

Auch das Kind trug eine Häftlingsnummer

Die Frage im Buch und im Film lautet: Sollen die Häftlinge, die den Aufstand gegen die SS vorbereiten, das Kind verstecken und um welchen Preis? In Wahrheit hatte es eine Häftlingsnummer wie die anderen, ja mehr noch. Zacharias Zweig: An den Lagerappellen „nahm auch mein Kind teil. Ich sah aus der Ferne, wie vorn, vor allen Blöcken, das Kind getragen wurde. Jemand aus der Häftlingselite trug es auf den Schultern und bewegte sich mit ihm im Takt des gespielten Marsches ... Und diesem Schauspiel schaute das ganze SS-Gefolge zu.“ Aber nicht lange.

Im August 1944 sind Zacharias Zweig und sein Sohn in Buchenwald angekommen. Im September stand das Kind auf der Deportationsliste nach Auschwitz. Der Vater sollte es persönlich an die Lagerrampe bringen. Die Lagerselbstverwaltung, die bald in den Händen der Kommunisten lag, versuchte alles, das Kind von der Liste nehmen zu lassen, vergeblich. Zacharias Zweig: „Das Kind setzte sich zur Wehr und sagte immer wieder auf Deutsch: ‚Ich gehe nicht auf Transport‘.“ Am Vormittag des Transports begann Willi Bleicher, Kapo der Effektenkammer, plötzlich zu weinen und zu schreien: „Ich gebe das Kind nicht her, so oder so.“

Bleicher ließ den Lagerkommandanten wissen, dass das Kind nicht auf Transport gehen werde. Andernfalls würden sie alle ihm das letzte Geleit zur Rampe geben. Bleicher heißt im Buch und im Film André Höfel (überwältigend gespielt von Peter Schneider). Er wurde bald darauf verraten, verhaftet, gefoltert und auf den Todesmarsch geschickt, konnte jedoch fliehen.

Das Land hatte seine Jugend gegen sich, nicht zuletzt deshalb ist es untergegangen

Im letzten Augenblick, als Zacharias Zweig sein Kind schon an die Hand nahm, um zur Rampe zu gehen, sagte jemand: „Geh nicht, warte noch!“ Kurz darauf gab ein bestochener SS-Arzt dem Kind eine Spritze, durch die es hohes Fieber bekam. Transportunfähig.

Der dreijährige Stefan Jerzy Zweig, Nummer 200 auf der Transportliste, fuhr nicht nach Auschwitz. Auf Platz 200 wurde statt seiner der 16-jährige Sinti-Junge Willy Blum eingetragen. Es war also gar keine Rettung? Es war bloß ein „Opfertausch“?

So hat es nicht nur der Gedenkstättenleiter von Buchenwald immer wieder erklärt. Die Suggestion des Wortes ist klar: SS oder Kommunisten – letztlich sind es nur zwei Seiten derselben Medaille. Und was sich als Rettung ausgab, war in Wahrheit nicht Tragödie, sondern Mord.

Gegen diese Suggestion, gegen die Beschmutzung des Andenkens seines Vaters und seiner „Lagerväter“ hat sich Stefan Jerzy Zweig gewehrt, als er Knigge per Gerichtsbeschluss untersagen ließ, weiter das Wort „Opfertausch“ zu verwenden. Er hat es erreicht.

Den Film sehen heißt: eine historische Erfahrung machen

Die Geschichte ist viel zu wichtig, um sie den Historikern zu überlassen. Stefan Kolditz, der Drehbuchautor der Neuverfilmung von „Nackt unter Wölfen“, geboren und aufgewachsen in der DDR, hat das Buch in der Schule gar nicht erst gelesen. Nicht, weil es schlecht war, nur, weil er es lesen sollte. Aus dem gleichen Grund sah er als Jugendlicher auch nie Frank Beyers Verfilmung von 1963 mit Armin Mueller-Stahl. Susanne Hantke, heute Apitz-Forscherin, Herausgeberin der textkritischen Neuausgabe im Aufbau-Verlag, Autorin des erhellenden 60-seitigen Nachworts, geboren und aufgewachsen in der DDR, las den Roman damals nur zur Hälfte. Wohl aus dem gleichen Grund.

Es ist die Generation der heute 50-Jährigen, die der DDR und ihren alten Männern einst jede Anteilnahme versagten. Das Land hatte seine Jugend gegen sich, nicht zuletzt deshalb ist es untergegangen. Und nun, 25 Jahre später, sind sie es, die dem antifaschistischen Widerstand der Gründerväter der DDR historische Gerechtigkeit widerfahren lassen. Philipp Kadelbachs berührenden Film zu sehen heißt, wie von selbst eine historische Erfahrung zu machen: Sozialisiert in der Illegalität und in Hitlers Lagern, führten sie später selbst einen Staat konspirativ wie eine illegale Zelle. Das hat Komik und Tragik zugleich.

900 Kinder erlebten am 11. April 1945 die Freiheit

Oder wie der Schauspieler Sylvester Groth, der den kommunistischen Lagerältesten Krämer spielt, es nach der Weimarer Premiere formulierte: „Diese beschädigten Menschen, die gleich darauf eine neue Gesellschaft aufbauen mussten ... Ich verstehe jetzt vieles besser!“

Krämer hieß in Wahrheit Erich Reschke, er wurde später in Stalins Gulag deportiert. Denn nicht nur Walter Ulbricht, der den Krieg im Wesentlichen in einem Moskauer Hotel verbracht hatte, misstraute den Buchenwald-Häftlingen. Stalin tat es auch.

Maßgeblich auf Erich Reschke geht die Errichtung des Kinderblocks in Buchenwald zurück. Es gelang sogar, ein Schulsystem aufzubauen. Und die SS-Aktion, alle Kinder und Jugendliche des Lagers nach Auschwitz zu schicken, zu unterlaufen. 900 von ihnen erlebten am 11. April 1945 die Freiheit. Die meisten waren zwischen 14 und 18 Jahren alt.

Dieser Text erschien auf der Reportageseite.

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