zum Hauptinhalt
Nach dem gewaltsamen Tod zweier Jugendlicher aus Bodenfelde hat eine Mordkommission der Polizei die Arbeit aufgenommen. Im Ort herrschen Trauer und Entsetzen.

© dpa

Update

Niedersachsen: Ermordete Teenager möglicherweise Opfer von Sexualstraftäter

Sie waren nur noch teilweise bekleidet und lagen nahe beieinander. Vermutlich sind die am Sonntag in Niedersachsen tot aufgefundenen Jugendlichen Opfer eines Sexualdelikts geworden.

Das Klacken der Hufe auf dem nassen Kopfsteinpflaster hallt durch den Ort. Ein Mädchen auf einem weißen Pony reitet durch die Straße. Sie hat blonde, lange Haare, ihre Arme lässt sie einfach nach unten hängen. Sie reitet vorbei an den Fachwerkhäusern, von denen es in Bodenfelde, diesem 4000-Seelen-Dorf etwa 40 Kilometer von Göttingen entfernt, so viele gibt. Am Straßenrand steht eine Gruppe von jungen Leuten, sie schauen stumm dem Pferd und der jugendlichen Reiterin nach. „Das ist die Schwester der Getöteten”, sagt eine derjenigen, die gerade eine Kerze auf der Straße nahe des Tatortes angezündet hat. Dann fügt sie mit Tränen in den Augen hinzu: „Das Pferd, auf dem sie reitet, gehörte ihrer Schwester Nina.“

Seit Sonntagnachmittag ist gewiss, dass Nina tot ist. Die Leiche der 14-Jährigen ist zusammen mit der Leiche eines 13-jährigen Jungen, der ebenfalls in Bodenfelde wohnte, an einem Bach am Rande des Dorfes gefunden worden. Sie sind Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Der Täter läuft frei herum. Die Unsicherheit ist groß. Die örtlichen Zeitungen sind am Montag schon um zehn Uhr morgens im ganzen Ort ausverkauft, im Supermarkt, im Lotto-Geschäft, beim Bäcker. Die Bäckersfrau sagt, sie habe sich heute Morgen mit dem Auto zur Arbeit bringen lassen. „Im Dunkeln gehe ich hier nicht mehr auf die Straße.“ Am Vormittag schreiten 500 Schüler von der Heinrich-Roth-Gesamtschule am Ortsrand still durch das Dorf, sie sind auf dem Weg zur Andacht. Es ist die Schule der beiden Getöteten.

Unter den Eltern ist die Angst groß, dass der Täter noch einmal zuschlagen könnte. Ausgerechnet in Bodenfelde hatte erst vor drei Jahren die „Schwarze Witwe“ Schrecken verbreitet. Eine ehemalige Prostituierte, die mit einem Komplizen in dem Ort vier alte Männer umbrachte, nachdem sie ihr Geld durchgebracht hatte. Auch davon ist gestern viel die Rede. Und die Angst geht um. Am Morgen bringen viele Eltern ihre Kinder mit dem Auto in die Schule, vor der Tür standen Polizisten, im Dorf sieht man überall Polizeibeamte. „Um am Ort zu ermitteln, aber auch um den Bürgern ein Gefühl von Sicherheit zu geben“, wie ein Sprecher sagt.

Eigentlich beginnt die Tragödie wohl schon am Montag vor einer Woche. Die 14-Jährige Nina, von der es heißt, sie komme aus nicht ganz einfachen Familienverhältnissen, kommt nach der Schule nur kurz nach Hause, bleibt dann aber tagelang verschwunden. Es ist nicht das erste Mal, dass die 14-Jährige Pferdeliebhaberin von zu Hause ausreißt, bisher jedoch, so erzählen es später die Ermittler, sei sie immer noch am gleichen Tag wieder aufgetaucht. Als das 1,60 Meter große Mädchen auch am nächsten Morgen nicht wieder zu Hause ist, verständigen die Eltern die Polizei. Doch deren Bemühungen, das Mädchen wiederzufinden, bleiben erfolglos. Dennoch können die Beamten zunächst gewissermaßen Entwarnung geben. Sie bekommen mehrere Hinweise von Gleichaltrigen, die das Mädchen mit den blond gefärbten, langen Haaren gesehen und mit ihr gesprochen haben wollen. Sie lebt also, scheint es. Wo sie übernachtet, mit wem sie zusammen ist, das weiß aber die Woche über niemand. „Sie hatte kein Geld dabei und war nur leicht bekleidet, jemand muss ihr geholfen haben”, sagt Hartmut Reinecke, Leiter der Mordkommission. Für den 13-jährigen Tobias läuft das Leben während dieser Suche noch ganz normal weiter. Er kennt die ein Jahr ältere Nina nicht näher, obwohl sie im gleichen Ort wohnen und in die gleiche Schule gehen. Er besucht die siebte Klasse, sie trotz ihres Alters erst die sechste Klasse. Tobias hat viele Freunde, seine Eltern sind im Ort bekannt. Er ist 1,46 Meter groß, seine dunkelblonden Haare trägt er bis zur Schulter.

Erst am Wochenende werden die zwei jungen Leben, die sich bisher nach allem, was man weiß, nicht kannten, auf tragische Weise verbunden. Am Sonnabend gegen 20 Uhr bringt er einen Freund zum Bahnhof. Danach, so macht er es mit seiner Mutter ab, wolle er zum Abendessen zurückkehren. Er schnallt sich seine blau-weißen Rollerblades um und verabschiedet sich. Es ist das letzte Mal, dass er lebend gesehen wird.

Als Tobias nicht zum Abendessen kommt, sucht die Mutter das Dorf ab. Abends dann ruft sie die Polizei, die auch noch nachts mit der Suche beginnt, erfolglos. Am nächsten Morgen dann trommelt die Familie Freunde zusammen und macht sich auf eigene Faust auf die Suche. Es ist Totensonntag. Am Mühlenbach, auf einem sumpfigen Trampelpfad am Dorfrand, macht die Mutter selbst die Entdeckung. Zunächst sieht sie ihren Sohn am Wegesrand liegen, wenig später findet der Suchtrupp auch die 14-jährige Nina wenige Meter entfernt am Waldrand. Beide sind tot. An einem Rechen im Bach, 150 Meter entfernt, hängen die Rollerblades allein im Wasser. Es muss ein schrecklicher Anblick gewesen sein, den die Mutter des 13-Jährigen und einige andere dort ertragen mussten. „Mir gehen die Bilder nicht mehr aus dem Kopf”, sagt ein 17-jähriger Freund, der beim Suchen half, und dabei war, als die Mutter des Toten ihren Sohn fand. Die Leichen seien fast nackt gewesen und hätten starke Verletzungen gehabt. „Seitdem ich das gesehen habe, kann ich kaum noch schlafen”, sagt der Junge.

Dirk Schmaler

Zur Startseite