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Niedersachsen: Shrimps aus dem Stall

Heinrich Schäfer war ein ganz normaler Bauer in Niedersachsen. Und er musste erleben, dass sich die Arbeit auf den Feldern nicht mehr lohnte. Doch dann hatte er eine Idee. Statt Kühe mästet er jetzt Garnelen – und schafft sich ein Bio-Paradies

Der Beweis dafür, dass Bauer Schäfer wenn schon nicht schlau, dann wenigstens klug gewesen ist, kommt in einem dunklen Renault Twingo mit Hannoveraner Kennzeichen. Er hat in eineinhalb Stunden Fahrzeit 85 Kilometer Bundesstraße hinter sich gebracht, trägt ein Jackett und einen Vollbart. Die letzten Meter geht der Beweis zu Fuß.

„Sind Sie Herr Schäfer?“

„Ja, der bin ich.“

„Verkaufen Sie schon? Also, ich hatte angenommen, dass Sie schon Hofverkauf machen.“

„Nein, noch nicht, leider noch nicht.“

Der Bauer und der Fremde stehen einander gegenüber, der eine zuckt mit den Schultern, der andere atmet leise aus. Beiderseitiges Bedauern. „Schade.“

„Ja, schade.“

Der Mann mit dem Vollbart hatte gehofft, Schäfer ein paar Garnelen abkaufen zu können. So sehr, dass es ihm die eineinhalb Stunden auf der B 6 von Hannover Richtung Bremen wert gewesen war. Als Schäfer noch Getreide anbaute und Kühe hielt, hat das niemand gemacht, niemand ist extra zu ihm hier rausgefahren, um zu fragen, ob er ein Kilo Weizen oder einen Liter Milch haben könne.

Es ist ein windiger Frühjahrsmittag in Affinghausen, Samtgemeinde Schwaförden, Landkreis Diepholz, Niedersachsen. Eine flache, mit Aprilgrün durchsetzte Landschaft, kaum Menschen, kaum Häuser, ein paar Wäldchen, Äcker, Moore. Ein robuster Bauer und sein Besuch.

Heinrich Schäfer findet, er kann den Hannoveraner nicht einfach so wieder wegfahren lassen, er lädt ihn ein, dazubleiben und zuzuhören. Er will erzählen, wie alles gekommen ist. Wie er also statt der Kühe nun Garnelen auf seinem Hof hat. Von der Garnelenmast, einem Perpetuum mobile, das ihn selig und möglicherweise bald wieder wohlhabend macht und aus seinem Hof vielleicht das Paradies. Es ist eine Geschichte, die für den leidenden und klagenden Teil seines Berufsstandes eine Art Wegweiser sein könnte.

Schäfer will sie ohnehin gerade erzählen. Er und der Hannoveraner sind umringt von sechs Männern, die ein paar Minuten zuvor auf ihren Fahrrädern hier eingetroffen waren. Neuigkeitshungrige Pensionäre aus der Umgebung, die um einen Hofrundgang mit Erläuterungen gebeten hatten, vor Tagen schon, und nun stehen sie hier, Wetterjacken, Baseballmützen, Satteltaschen, auch sie atmen hörbar, auch sie haben einen weiten Weg hinter sich. „27,6 Kilometer“, sagte vorhin einer beim Blick auf seinen Kilometerzähler. „Quatsch, 28,26“, sagte ein anderer. Freunde der Exaktheit, ihr Interesse ist groß.

Ein paar Minuten später schauen sie wieder auf Digitaldisplays. „38,8“, „43,9“, Grad-Celsius-Werte. Die Männer drängen sich in einem Container, in dem eigentlich nur Platz ist für den heißen, riesigen Lkw-Motor, der hier Tag und Nacht läuft. Schäfer erzählt, keiner kann ihn hören bei dem Lärm, er zeigt auf Anzeigekistchen an der Wand mit den beiden rot leuchtenden Zahlen und auf die Beschriftungen daneben, „Temperatur Hauptfermenter“, „Temperatur Nachfermenter“, steht da. Haupt- und Nachfermenter sind die Verrottungsbehälter von Schäfers Biogasanlage, in ihnen gärt es, so wie es im Inneren eines Komposthaufens gärt. Und wie in einem Komposthaufen entsteht dabei Wärme.

Wenn Schäfers Hof tatsächlich das sich abzeichnende Paradies ist, dann ist diese Biogasanlage dessen Pforte.

Ungefähr 800 000 Menschen arbeiten in der deutschen Landwirtschaft. Im vergangenen Jahr machten sie einen Umsatz von 43 Milliarden Euro, im Jahr zuvor waren es 50 Milliarden. Je sogenannter Arbeitskrafteinheit wurden im Jahr 2009 20 900 Euro verdient. Im Jahr zuvor waren es 4900 Euro mehr.

Der größte Teil dieses Schwunds hat seine Ursache in den gesunkenen Preisen für Milch und Getreide. Für Milch haben die Molkereien den Bauern im Jahr 2009 zeitweise so wenig Geld bezahlt, dass nicht einmal die Kosten gedeckt waren.

Bauer Schäfers Milchviehhaltung hat sich schon im Jahr 1984 nicht mehr gelohnt. Er hatte damals 20 Kühe. Er bewirtschaftete 30 Hektar Ackerland, er hatte auch 20 Schweine. Das hatte bis dahin gereicht, um neun Schäfers zu ernähren, zwei Familien, „sehr, sehr gut“, sagt Schäfer seinen Besuchern, „wir konnten uns was leisten. Wir haben zwar körperlich schwer gearbeitet, aber wir hatten keinen Stress.“ Er hat, als sich das damals zu ändern anfing, viel nachdenken müssen über die Landwirtschaft und die Marktgesetze, und am Ende kam er immer auf eine ganz einfache Antwort: Er musste etwas tun, wofür jemand bereit ist, Geld zu zahlen. Etwas, wofür es Kunden gab. Einen Markt.

Es ist eine einfache Antwort, aber eine schwere Entscheidung.

„Herr Heinrich Schäfer“, ausweislich einer vergilbten Urkunde, die gerahmt an der Wand seines Büros hängt, „geboren am 5.7.1949 in Affinghausen“, der „heute vor dem Meisterprüfungsausschuss im Bezirk der Landwirtschaftskammer Hannover die Prüfung als Landwirtschaftsmeister“ bestand, „Hannover, den 27.6.1973“, und dessen Hof seit 450 Jahren im Familienbesitz ist, schaffte seine Tiere ab und verkaufte fortan kaum noch bäuerliche Produkte, sondern vor allem seine bäuerliche Arbeitskraft. Er arbeitete gegen Bezahlung auf den Feldern seiner Nachbarn. „Ja, schwere Entscheidung“, sagt Schäfer, „aber alternativlos."

Ein paar Tage bevor er an diesem Aprilmittag Besuch bekam, hielt der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Gerd Sonnleitner, vor Kollegen von Schäfer im schleswig-holsteinischen Tarp eine Rede. Sie hat den Titel „Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Markt und Politik“. Sonnleitner hält sie oft. In der Rede geht es um die europäische Landwirtschaftspolitik und an einer Stelle auch um die Vorteile, die die Verbraucher daraus ziehen.

Verbraucher ist ein ziemlich abfällig klingendes Wort, aber es hat sich eingebürgert. Nicht nur Sonnleitner benutzt es, längst gibt es auch Verbraucherschutzzentralen und ein Verbraucherschutzministerium. Verbraucher sind meist diejenigen, die etwas kaufen, das rasch nach dem Kauf nicht mehr da ist, Essen zum Beispiel, Landwirtschaftsprodukte. Oder Strom. Vielleicht hat die Misere vieler deutscher Bauern auch damit zu tun, dass irgendwann einmal dieses Wort in ihre Köpfe gekommen ist. Es klingt wie eine lebenslange Garantie für ein einmal gefundenes Geschäftsmodell. Es geht dabei nicht um Angebot und Nachfrage, es geht nur noch um Nachschub. Automobil-, Bekleidungs- und Computerfirmen nennen ihre Kunden Kunden.

Sonnleitner also spricht über die Vorteile der europäischen Landwirtschaftspolitik. Niedrige Preise, sagt er, gesunde Produkte, Qualität beim Geschmack. Er sagt: „Die Verbraucher leben dergestalt in Deutschland quasi im Paradies. Die Einzigen, die man aus diesem Paradies vertrieben hat, sind die Bauern.“

Vor ihm sitzen welche. Sie applaudieren einem Mann, der gerade eine Front aufgemacht hat. Aber nicht nur, dass Verbraucher undankbare Paradiesbewohner und Bauernerpresser sind, sie essen mittlerweile auch das, was sie im Kühlschrank haben, fast vollständig auf. Möglicherweise ist auch das ein Vorwurf. In den Zeiten vor der Wirtschaftskrise landeten angeblich noch zehn Prozent der Lebensmitteleinkäufe auf dem Müll.

20 Jahre hat auch das Abernten und Bestellen der Nachbarsfelder für Schäfer gut funktioniert, die Nachbarn waren oft Freunde, für die es mit der Zeit schwierig wurde, Schäfer angemessen zu bezahlen. „Die wollten ja auch von was leben“, sagt er. Schäfer baute also eine Lagerhalle für Stroh, das er gewinnbringend nach Holland verkaufen konnte. Als das nicht mehr ging, lagerte er darin acht Millionen Flaschen Mineralwasser für eine Mineralwasserfirma. Bis die dann ankündigte, dass sie seine Halle nicht mehr brauchen würde.

Es war die Zeit, als die Politik kleine Privatkraftwerke zu fördern begann mit einem Gesetz, das den neuen Energieerzeugern die Abnahme ihres Stroms und hohe Preise dafür garantierte. In Deutschland entstanden Biogasanlagen. Es war der September 2006, als Schäfer auf seinen Feldern nun Mais erntete und eine erste Fuhre davon in seinen Hauptfermenter werfen konnte. Die Anlage rechnete sich sofort, für die beteiligte Bank, für den beteiligten Kapitalanlagefonds und für Schäfer.

Er baute eine zweite. Der Mais gärte, das Gas trieb den Lkw-Motor an und der wiederum einen Generator. Nebenbei wurde der Lkw-Motor heiß. Es hätte so bleiben können. Doch Schäfer hatte wieder eine Frage. Was mache ich mit der Wärme? Die ist doch auch ein Wert.

Es gibt Bioanlagenbauern, die mit dieser Wärme ihre Traktorenhallen heizen, im Sommer, wenn es ohnehin nicht kalt ist und die Maschinen draußen auf den Feldern sind, und im Winter, wenn sie monatelang nur herumstehen. Das wird sogar subventioniert. Schäfer sagt, so ist er nicht, „das wäre Bauernschläue, das wäre Betrug“. Schäfer sah fern. Kochsendungen.

Dauernd kochten die da irgendetwas mit Fisch, Muscheln, Krebsen. Schäfer sah Gesundheitssendungen. Esst mehr Meerestiere! Schäfer schaute ins Internet. Las von Garnelen, die jeden Tag tonnenweise nach Deutschland importiert werden. Sie stammen aus Vietnam, Bangladesch, Indien und den USA, wo nun die Ölpest den Nachschub vergiftet. Große Mengen sind antibiotikaverseucht, manche werden deshalb gleich aus dem Verkehr gezogen.

Schäfer hatte seine Antwort. Garnelen. Die Leute kauften sie ja offenbar, selbst wenn sie in dreckigem Wasser am anderen Ende der Welt aufgezogen werden und voller Medikamente sind. Er würde seine Lagerhalle mit Bottichen vollstellen, Tierärzte regelmäßig zu Untersuchungen kommen lassen, sie würden ihm bestätigen, dass er keine Arzneimittel benutzt. Der gefilterte Garnelendreck wäre Dünger für den Mais, und die getrockneten Reste aus dem Entsalzungsbecken bekäme der Straßenwinterdienst.

So kam es auch. Gerade ist Erntezeit in der Garnelenhalle, zum ersten Mal. Wenn Schäfers Besucher wieder abgefahren sein werden, am Nachmittag, wird ein Kleinlaster vorbeikommen und die ersten Lieferungen abholen. Testpakete sind das, sagt Schäfer, er will wissen, ob sie schnell und heil bei seinen Kunden ankommen. Schäfer sagt tatsächlich Kunden.

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