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Nordsee: Die Masche des Fischers

"Fischer ist der beste Beruf", sagt Kapitän Rahr. Aber wie lange wird er noch einer sein? Auf seinem Trawler jagt er den Schwärmen nach und muss immer weiter nach Norden. Wegen des Klimas. An die Überfischung der Nordsee glaubt er nicht. Trotzdem schont er sie.

Seit er unten im Mannschaftsraum alle angehört hat, die zu dem Vorfall letzte Nacht etwas sagen wollten, sitzt Manfred Rahr wieder allein auf der Kommandobrücke und erteilt eine letzte Gnade. Er liest die Windstärkevorhersagen und Wetterberichte, er schaut aus dem Fenster, taxiert die Wellen, die über die Mole ins Hafenbecken schlagen, kalkuliert, wann endlich der Moment zum Auslaufen da sein wird, kalkuliert und verwirft.

Er lässt Zeit vergehen. Manfred Rahr, 58 Jahre alt, langgedienter Kapitän des Hochseekutters „Susanne“, hat nach allem, was ihm am Morgen im Mannschaftsraum erzählt worden ist, entschieden, einen seiner Matrosen vom Schiff zu jagen. Er hat ebenfalls entschieden, so lange damit zu warten, bis der Mann, er liegt noch im Bett, ausgeschlafen hat. Rahr hat keinen Zweifel daran, dass er in diesen Dingen hart sein muss. Hart sein, aber nicht erbarmungslos. Genauso geht er auch mit den Fischen um.

Es ist ein dunkler Herbstvormittag im Hafen von Hanstholm, einem 2500-Einwohner-Ort im Norden Dänemarks. Die „Susanne“, 40 Meter vom Bug zum Heck und damit das größte Schiff der deutschen Fischfang-, Fischverarbeitungs- und Fischvermarktungsfirma Kutterfisch, Unternehmenspolitik: Verzicht auf fragwürdige Fangmethoden, zerrt an oberarmdicken Tauen. Draußen hinter der Mole rast das Skagerrak, drinnen, im Hafenbecken, reißt der Wind Wasserfetzen von den immer noch schäumenden Wellenkämmen. Der erste Herbststurm des Jahres beruhigt sich nur langsam.

Seit Tagen liegt das Schiff im Hafen fest, die Mannschaft sitzt im Mannschaftsraum, sie kocht, sie isst, sie sieht fern, einer stellt Coladosen auf den Tisch, einer macht einen Trinkspruch, „Und wenn die Weiber nackig laufen, lass ‘se laufen, wir geh’n saufen.“ Saufen waren sie am Abend zuvor, in einer Seemannsbar am Hafen. Der Matrose, den alle an Bord nur den Polen nennen, war so hinüber, dass er zweimal vom Barhocker fiel. Und dann hat er versucht, aus dem Portemonnaie eines Kollegen einen 50-Euro-Schein zu klauen. Das kann nicht mal der Suff entschuldigen. Kurz nach eins ist der Pole wach, die Gnadenfrist vorbei, ein paar Minuten später hat er seine Tasche gepackt. Grußlos geht er von Bord.

Eine Arbeitskraft weniger, nachdem schon zwei von Rahrs Männern wegen Krankheit fehlen und er Ersatzleute anheuern musste, dazu der Sturm. Es macht den Eindruck, als habe sich etwas gegen ihn verschworen diesmal, als solle unbedingt verhindert werden, dass er mit der „Susanne“ auf die Nordsee hinausfährt und Fische aus ihr herausholt.

Die Nordsee. 575 000 Quadratkilometer groß, im Durchschnitt etwas weniger als 100 Meter tief mit ganz grob geschätzten zehn bis 15 Millionen Tonnen Fisch. Etwa ein Viertel davon wird jedes Jahr gefangen, was im Vergleich mit anderen Meeren eine große Menge ist. Aus allen Ozeanen zusammen werden pro Jahr offiziell etwas mehr als 80 Millionen Tonnen Fisch geholt. Das ist ungefähr das 27-fache der Nordseemenge, aber zusammen haben die Ozeane auch eine 600- mal so große Fläche.

Der Vergleich ist unwissenschaftlich, er unterstellt, dass die Nordsee etwa 20-mal stärker befischt wird als das Durchsschnittsmeer. Aber er vermittelt einen groben Eindruck. Der Vergleich unterschlägt zum Beispiel, dass die Nordsee ein sehr produktives Meer ist. Ihre Fähigkeit, Fische gedeihen zu lassen, ist überdurchschnittlich groß.

Dennoch ist sie laut Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen eines jener Meere mit der höchsten Rate an „völlig erschöpften“ Fischbeständen. Ozeanweit beträgt diese Rate ungefähr 50 Prozent, mit steigender Tendenz. Dagegen sinkt der Anteil jener Bestände, die der Welternährungsorganisation als gesund erscheinen. Derzeit sind es noch 20 Prozent.

Die Welt kennt diese Zahlen seit Jahren. Sie scheint sie hinzunehmen. Die Weltnaturschutzunion hat am vergangenen Dienstag auf der UN-Artenschutzkonferenz im japanischen Nagoya einen Bericht veröffentlicht, nach dem bis dieses Jahr ein Prozent der Meeresfläche unter Schutz gestellt worden ist. Im Jahr 2002 war vereinbart worden, dass es zehn Prozent sein sollten.

Am Tag, nachdem der Pole gegangen ist, springt die Maschine der „Susanne“ an. Rahr trägt ein blaues Polohemd mit rotem Aufdruck, zu lesen sind die Worte „Kutterfisch“ und „nachhaltig +++ verantwortlich +++ transparent“, er ist wieder auf der Kommandobrücke, diesmal sitzt er nicht. Er läuft nervös umher. Es ist früher Morgen, halb sechs, der Wind weht etwas schwächer als am Tag zuvor. Eine halbe Stunde später steigt das Schiff auf Berge aus Wasser und versinkt in die Täler dazwischen, die Fahrt geht nach Norden, und Rahr lacht, er feiert seinen Sieg über die Umstände.

Er fährt dem Seelachs entgegen. Mengenmäßig ist das ein wichtiger Speisefisch der Deutschen, er gilt als nicht überfischt, auch Umweltschutzorganisationen sagen das. Leider ist er nicht besonders lukrativ. Und leider ist er auch kein Lachs. Der Name ist eine Erfindung der Lebensmittelindustrie, die sich davon höhere Einnahmen verspricht. Eigentlich heißt der Seelachs bloß Köhler und gehört zur Familie der Dorsche.

Nur ein paar Stunden noch, dann wird Rahr ihn wieder jagen. Schalthebel in den Händen, wird er die Winde in Betrieb setzen, auf die das Schleppnetz gewickelt ist, ein Scheppern und Klirren wie von Panzerketten erfüllt dann das Schiff. Er wird zusehen, wie sich das Meer hinter ihm das Netz holen wird, Meter für Meter, schließlich auch die beiden Scherbretter, laut wie ein Glockenschlag lösen sie sich aus ihren Verankerungen, tonnenschwere Metallschilde, die aussehen wie Bunkertüren, unter Wasser sollen sie den Netzeingang weit offen halten.

Rahr, geboren in Cuxhaven, ist Fischer, seit er 15 ist. Die Eltern waren dagegen. „War ja früher verrufen“, sagt Rahr, „die Fischer waren ja bis zu anderthalb Jahren draußen, und dann haben die an Land alles nachgeholt, was sie verpasst hatten. Mehr brauch ich, glaube ich, nicht zu sagen.“ Mit 18 hatte er ein Auto, und sein Motorrad war das größte in seinem Freundeskreis.

„Fischer ist der beste Beruf“, sagt Rahr. „Jeder Tag ist anders, du weißt nicht, wie viel Fische du fängst, du weißt nicht, in welchem Zustand dein Netz ist, wenn du es rausholst, manchmal ist es weg, dann suchst du das den ganzen Tag. Du merkst die Luft, und du merkst die ganzen Umweltveränderungen.“ Er hat oft Leute zu Gast, meist vom Fernsehen, die versuchen, etwas davon nachzuempfinden. Was sie dann zu sehen bekommen an Bord, ist oft nur die Härte.

Aber die Abwechslung!, sagt Rahr, die Luft!, die Umweltveränderungen! Er weiß, dass er Leute vom Land damit nicht überzeugen kann und erzählt dann doch zum Beispiel davon, dass die maximale Differenz von Wellenberg und Wellental in den letzten 25 Jahren zweieinhalb Meter größer geworden ist, das habe er festgestellt, und dass es früher zwei Tage schlechtes Wetter gab und 14 Tage gutes. „Das hat sich umgekehrt. Klimawandel, da brauchen wir nicht drüber zu reden, das ist so“, sagt er.

Er sagt, dass allein dieser Klimawandel schuld daran sein muss, dass immer mehr Schiffe in immer mehr Gegenden unterwegs sind und die Fangmenge trotzdem nicht steigt. „Der Fisch ist nicht weg, der ist nur woanders. In der Nordsee jedenfalls ist das so.“ Sein Seelachs schwimmt heute viel weiter nördlich als früher. Das Wasser wird wärmer, unmerklich fast, aber das hat Auswirkungen auf seinen Salzgehalt und auf die Strömungen und damit auf die Fische. Die Nordsee ist unordentlich geworden. Schuld an dieser Unordnung ist aber auch die Europäische Union.

Deren Politik nennen Menschen von Umweltschutzorganisationen verbrecherisch, Rahr sagt, „die stinkt zum Himmel, das ist so.“ Es kommt zum Beispiel vor, dass Fischern die Modernisierung ihrer Schiffe subventioniert wird, danach – mit dem Ziel, die Fangflotten zu verkleinern – deren Verschrottung, und mit diesem Geld schaffen die Fischer sich dann wiederum neue, leistungsfähigere Schiffe an. Aus einem Schriftstück der EU-Kommission geht hervor, dass es Mitgliedsländer gibt, in denen die Kosten für Fischereisubventionen den ökonomischen Wert der Fänge übersteigen. Welche das sind, teilt die Kommission nicht mit, naheliegend ist jedoch, dass es sich dabei um Spanien, Polen und Italien handelt, große Fischfangnationen und Großempfänger von Geld aus dem Europäischen Fischereifonds.

Das Netz kommt rein. Eine halbe Tonne Seelachs ist drin, dazu zehn Kilogramm Schellfisch, 35 Kilo Seehecht, fünf Kilo Plattfische. Beifang. Weggeschmissen wird auf der „Susanne“ nichts davon. Das ist unüblich, denn oft lassen die EU-Systematik und die Vorgaben der Flottenbetreiber den Fischern gar keine andere Wahl, als den Beifang wie Abfall zu behandeln, aber bei Kutterfisch machen sie es nun einmal so. Sie verwenden hier auch Schleppnetze mit größeren Maschen als vorgeschrieben, damit junge, kleine Fische hindurchschlüpfen können und eine Chance auf Vermehrung haben.

Das und noch ein paar Zugeständnisse mehr haben Kutterfisch als einzigem deutschen Fischereibetrieb das Unbedenklichkeitssiegel des Marine Stewardship Council eingebracht, einer vor 13 Jahren vom Lebensmittelkonzern Unilever und dem World Wide Fund for Nature gegründeten Organisation. Sie ist mittlerweile unabhängig, finanziert sich aus Spenden und Lizenzgebühren, überwacht, dass sich die von ihr beurkundeten Firmen auch weiter an die Regeln halten. Wer im Laden nach so gefangenem Fisch sucht, der erkennt ihn an einem blauen Oval auf der Verpackung.

Größere Maschenweiten bedeuten, man muss länger fischen. Rahr zum Beispiel, dem von der EU ungefähr 2000 Tonnen Seelachsfang pro Jahr zugestanden werden, hätte diese Menge mit den üblichen Netzen in sieben, acht Monaten zusammen. So aber fischt er übers ganze Jahr. Aber er ist ja gerne draußen. Jeder Tag ist anders.

Obwohl er die ganze Sache mit der MSC-Güte nicht nur positiv sieht, wie er sagt, und obwohl er den zigfach und immer wieder neu belegten Überfischungsgrad seiner Nordsee nur für eine These hält, sagt er auch: „Ich will ja nächstes Jahr auch noch was rausholen.“ Das ist ein Nachhaltigkeitssatz wie aus dem Lehrbuch, Manfred Rahr ist ein widersprüchlicher Mensch.

Wie er seine Beute findet? „Normalerweise zieht der Fisch mit dem Wind mit. Oder ihm entgegen“, sagt Rahr. Und alle sechs Stunden nuschelt er „Na, dann lasst uns mal“ in ein Mikrofon. Unten, im Mannschaftsraum, wird ein Knarren des Lautsprechers daraus, mehr nicht, aber jeder der fünf Männer hier weiß dann, was gemeint ist. Ölzeug an, Helm auf, Netz einholen, die Fische durch eine Luke in den Schiffsbauch fallen lassen, ihnen folgen, mit Gummistiefeln in knöchelhohem, blutigem, schaukelndem Wasser stehend die Leiber ausnehmen, auf Förderbänder schmeißen, in eisgefüllte Plastikwannen stapeln. Alle sechs Stunden, einen Tag lang, zwei, drei, wie im Schlaf oder tatsächlich nahezu schlafend. Die Kunst besteht darin, trotzdem hellwach zu sein. Ein vierter Tag, die Zeit verschwimmt und die Gesichter. Bisschen hinlegen, bisschen fernsehen, bisschen Internet. Und immer wieder die Enttäuschung, dass das Netz auf dieser Fahrt nicht im Entferntesten voll aus dem Wasser kommt.

„Kleinvieh macht auch Mist.“ Der Satz fällt unten im Mannschaftsraum bei einer Pokerrunde.

„Sprich mich nicht an, wenn ich dir nicht zuhör.“

„Steinbeißer, die haben sehr gutes Fleisch, weil die sich gut ernähren. Die fressen Krabben und so.“

„Kennt ihr Greenpeace?“

„Ja, die finde ich gut, weil die die Wale schützen.“

„Wieso soll man die denn schützen, schmeckt doch.“

„Schon mal gegessen?“

„Ja, Schweinswal.“

„Warum soll man die dann schützen?“

„Weil es weniger werden.“

Überfischung, daran glauben sie mal mehr, mal noch weniger als ihr Chef, je nach Gemütslage. Der Lehrling sagt, dass auch sein Biologielehrer an der Berufsschule erzählt, dass das alles übertrieben ist, aber jeder von ihnen kann von Fangfahrten berichten, bei denen die Netze leer blieben und dass das zuzunehmen scheint. Sie wissen auch, dass ihr Berufsstand ausstirbt, und sie reden voller Verachtung von den Riesentrawlern mit ihren engmaschigen Riesennetzen, die ihnen manchmal auf See begegnen, die nahezu alles aus dem Wasser holen, was drin ist. Gammelfischer nennen sie die.

Es passt nicht zusammen, was sie sagen, genausowenig wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Vereinten Nationen mit dem Handeln ihrer Mitgliedsstaaten. Mit einem Unterschied: Die Männer hier an Bord stellen die Überfischung der Meere in Frage, verhalten sich aber so, als sei sie eine Tatsache. Bei den UN-Mitgliedsstaaten ist es umgekehrt.

Herbst auf der Nordsee, der Sturm beruhigt sich nur langsam. 1000 Kilometer südwestlich von hier, auf dem mitteleuropäischen Festland, zieht er gerade erst auf. Am Dienstag verhandelten in Luxemburg die Landwirtschafts- und Fischereiminister der 27 EU-Mitgliedsländer zum ersten Mal mit der neuen EU-Fischereikommissarin Maria Damanaki über künftige Fischfanghöchstmengen. Es ging um die Ostsee, es endete mit einem Kompromiss, aber im Streit. Ein Drittel weniger Hering, ein Viertel weniger Sprotten. Die neue Fischereikommissarin, seit Februar im Amt, orientiert sich an wissenschaftlichen Daten, nicht an den Interessen einzelner EU-Länder, sie hätte den Sprottenfang gern noch weiter beschränkt, konnte sich aber nicht durchsetzen. Ihrem Amt fehlt die Macht dazu. Dennoch könnte sie zu einem ernsten Gegner der dominierenden Fischfangminister werden. Sie hat zu kämpfen gelernt, als junge Frau schon, da war sie im Widerstand gegen die griechische Militärdiktatur. Im November werden sie sich wieder treffen, in Brüssel. Dann geht es um die Nordsee.

Im Mannschaftsraum der „Susanne“ läuft das Radio. Ein Sänger singt: „Steh auf. Denn der Wind dreht, der Wind dreht jetzt.“ Kurz darauf knarrt der Lautsprecher. „Dann lasst uns mal.“ Und die fünf Männer wissen, was zu tun ist.

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