zum Hauptinhalt
Zunehmend unsicher. Breivik während der Verhandlung im Osloer Gericht.

© dpa

Norwegen vor dem Urteilsspruch: Er spricht sich schuldig

Am Freitag wird in Oslo das Urteil gegen den Attentäter Anders Behring Breivik verkündet. Aber die Diskussion um den 22. Juli 2011 und seine Folgen ist noch lange nicht beendet. Auch für Breivik nicht.

Gerade bauen sie in Norwegen noch um, extra für ihn. Im Hochsicherheitsgefängnis Ila, in dem Anders Behring Breivik einsitzt, wird ein Trakt in eine psychiatrische Abteilung verwandelt. Eine Hochsicherheitsklinik – für spezielle Fälle. Auf einen wie ihn war dieses Land nicht vorbereitet. Das norwegische Strafsystem gilt als liberal, die Haftanstalten wirken geradezu komfortabel. Resozialisierung steht im Vordergrund. Es ist der Versuch, an das Gute in jedem Menschen zu glauben. Manchmal fällt das schwer.

Breivik hat mit seiner Tat, mit dem Mord an 77 Menschen am 22. Juli 2011, das Land erschüttert. Am kommenden Freitag nun wird das Urteil über ihn gesprochen – und die Staatsanwaltschaft, die schon zu Beginn des insgesamt zehn Wochen andauernden Prozesses Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Täters hatte, plädierte Ende Juni für eine Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung. Breivik verlangte Freispruch – oder Gefängnis. Ist er schuldfähig oder ist er es nicht, das wird die zentrale Frage sein, über die das Gericht zu entscheiden hat.

Vier forensische Psychiater hatten in den Monaten zuvor zwei Gutachten präsentiert, die gegensätzlicher kaum sein konnten. Während Synne Sørheim und Torgeir Husby Breivik eine paranoide Schizophrenie attestierten, hielten ihre Kollegen Agnar Aspaas und Terje Törrisen dagegen. Sie waren überzeugt: Weder zum Tatzeitpunkt noch während ihrer Befragung sei Breivik psychotisch gewesen.

Vor Gericht setzten die Fachleute den Streit fort. Mitte Juni waren zusätzlich zu den Gutachtern noch mehr als ein Dutzend Experten in den Zeugenstand gerufen worden. Doch die Aufklärung, die man sich von der Wissenschaft erhofft hatte, gab es nicht. Stattdessen bittere Erkenntnisse. Dass nicht nur die Tat in ihrer Grausamkeit einzigartig ist, sondern auch der Täter. „Vielleicht kann unser diagnostisches System ihn nicht erfassen“, sagte einer der Experten.

Bilderstrecke: Breivik vor Gericht

Anders Breivik verfolgte die Diskussionen teils belustigt, teils verärgert. Für ihn war klar: Mit der Psyche eines Terroristen, wie er einer sei, kenne sich offenbar niemand aus. Der will er sein, bis jetzt. Ein politischer Terrorist, dessen Anschlag ein Versuch war, das Land aufzurütteln, aufmerksam zu machen auf eine vermeintliche Islamisierung, auf den „kulturellen Marxismus“ einer liberalen, ihm verhassten Regierung. All dem Einhalt zu gebieten mithilfe von Gewalt und Mord, das war sein Ziel. Der 22. Juli sei auch für ihn ein schlimmer Tag gewesen, wiederholte Breivik mehrfach vor Gericht. Schlimm aber notwendig.

Die Schilderungen derer, die seine Schießerei auf der Fjordinsel Utøya überlebten; derer, die bei der Explosion seiner Bombe im Regierungsviertel Angehörige und Freunde verloren hatten, hörte sich Breivik im Gericht ungerührt an. Acht starben, als die mehr als 900 Kilogramm schwere Bombe explodierte, 69 Jugendliche ließen auf Utøya ihr Leben. Mehr als eine Stunde lang dauerte es, bis die Staatsanwaltschaft damals die Namen aller Verletzten und Toten verlesen hatte. Was für die Angehörigen nur schwer zu ertragen war, verfolgte Breivik mit ausdruckslosem Gesicht.

Breivik verzeichnet inzwischen eine wachsende Fangemeinde

Einzig als sein selbst erstelltes Video zu sehen war, verlor Breivik kurz die Fassung und weinte. Gerührt über die wilde Ästhetik seines imaginären Widerstands, die sphärische Musik, die kruden, anti-islamischen Piktogramme. Das Video hat er vor der Tat komponiert. Ein „Kompendium“, ein mehr als 1500 Seiten umfassendes Schreiben stellte er am 22. Juli 2011 online. Darin kritisiert er die Gesellschaft, macht Vorschläge zu ihrer „Verbesserung“ und zitiert rechtsextremes Gedankengut aus Büchern und Blogs.

Souverän aber wirkte der Angeklagte nur, wenn er aus seinen immer gleichen Aufzeichnungen lesen durfte. Als Staatsanwältin Inga Bejer Engh – für ihre Abgeklärtheit im Umgang mit ihm sehr gelobt – begann, Breivik zu befragen, wurde der zunehmend unsicher. Schritt für Schritt nahm sie sein Weltbild auseinander, kratzte an seinen Fantasien. Das Monster im Kampfanzug, das Breivik auf Utøya noch gewesen war, schrumpfte zu einem blassen jungen Mann, der selbst in den Augen der traumatisierten Überlebenden keinen Schrecken mehr besaß.

Bilderstrecke: Breivik vor Gericht

Dass er Teil eines umfassenden Netzwerks sei, von diesem Gedanken ließ Breivik während des Prozesses allerdings nie ab. Es verlieh der schrecklichen Tat einen zusätzlich unheimlichen Beigeschmack. Wieder und wieder sprach er von „Brüdern“, die den Prozess nicht nur genau verfolgten, sondern auch weitere Anschläge planten. Selbst wenn es bloße Hirngespinste wären, Breivik verzeichnet inzwischen eine wachsende Fangemeinde. Es gibt Gruppen bei Facebook, die ihn verehren; Anhänger schreiben ihm Briefe ins Gefängnis, die er beantworten darf; auch sein Schlussplädoyer ist online zu finden – mit englischen Untertiteln.

Die Norweger haben sich vorerst um greifbarere Dinge gekümmert als den virtuellen Beistand für einen Mörder. Eine unabhängige Expertenkommission analysierte das Verhalten von Polizei und Behörden im vergangenen Juli. Der mehr als 400 Seiten starke Abschlussbericht kam zu dem Ergebnis, dass nicht nur Breivik früher auf Utøya hätte gestoppt werden können, sondern dass auch die Platzierung der Bombe im Regierungsviertel hätte verhindert werden können, wenn längst bestehende Sicherheitsmaßnahmen und -absperrungen genutzt worden wären. Oslos Polizeichef trat deswegen Ende vergangener Woche zurück. Tage zuvor hatte die Zeitung „VG“ gefordert, auch Ministerpräsident Jens Stoltenberg solle sein Amt niederlegen.

Die Diskussion um den 22. Juli 2011 und seine Folgen ist demnach noch lange nicht beendet. Auch für Breivik nicht. Der ließ bereits verkünden, er werde Berufung einlegen, sollte das Gericht ihn für unzurechnungsfähig erklären.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false