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Panorama: Ohne Impfung keine Schule?

Experten fordern eine Impfpflicht gegen Masern, nachdem schon wieder ein Junge lebensgefährlich an Gehirnentzündung erkrankt ist

Ein zweijähriger Junge ist in Duisburg nach einer Maserninfektion an einer lebensgefährlichen schweren Gehirnentzündung erkrankt. Das wurde am Mittwoch bekannt. Experten denken jetzt angesichts der grassierenden Masernepidemie über eine Impfpflicht für Schul- und Kindergartenkinder nach. Das Kind aus Duisburg ist schon der zweite Fall einer Gehirnentzündung infolge der Masern. Insgesamt sind mehr als 1100 Menschen an Masern erkrankt. Der Junge in Duisburg habe nicht geimpft werden können, weil er an einem schweren angeborenen Immundefekt litt, teilte der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte am Mittwoch mit. Gerade im Interesse dieser Kinder, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden dürfen, die aber besonders davon profitieren, wenn die Krankheit nicht ausbricht, wünscht sich die Münchner Kinderärztin Ursel LindlbauerEisenach, Mitglied der ständigen Impfkommission (Stiko), in Sachen Impfpflicht jetzt „eine stärkere Gangart“. „Sonst sind die Kinder besonders gefährdet, deren Immunsystem mit Medikamenten gedämpft wird, außerdem jüngere, noch ungeimpfte Geschwister und schwangere Betreuerinnen.“

Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Wolfram Hartmann, plädiert bei Krankheiten, die von Mensch zu Mensch übertragen werden und bei denen die Stiko die Impfung empfiehlt, aufgrund der zu geringen Impfraten in Deutschland für das strenge amerikanische Modell „No vaccination – no school“ (keine Impfung, keine Schule), das deutsche Eltern kennen, deren Kinder ein Schuljahr in den USA absolvieren möchten. Wer nicht gegen Diphtherie, Masern, Mumps und Röteln geimpft ist, soll in Zukunft auch in Deutschland nicht in die Kita oder in die Schule dürfen. „Gemeinschaftseinrichtungen, die überwiegend der Staat finanziert, sollten die Impfung gegen diese Krankheiten zur Voraussetzung machen“, sagte der streitbare Kinderarzt gestern im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Schließlich seien Impfungen diejenige Art der Krankheitsvorbeugung, die wissenschaftlich am besten abgesichert ist, argumentiert der Mediziner. „Neben den USA machen Länder wie Finnland und Dänemark vor, was man mit der Impfpflicht für alle Schüler erreichen kann.“ Kinder und Jugendliche, bei denen spezielle gesundheitliche Gründe gegen eine Impfung sprechen, bleiben in jedem Fall ausgenommen. Als wichtiges Argument für eine strengere Regelung führt Hartmann an, dass Deutschland augenblicklich das hehre Ziel der Weltgesundheitsorganisation gefährde, die Erde bis zum Jahr 2010 masernfrei zu machen. Deshalb fordern die Kinder- und Jugendärzte von der Politik schon länger ein „stringentes nationales Impfkonzept“.

Nicht zuletzt unter Hinweis auf die staatliche Bevormundung der Bürger zu DDR-Zeiten hatten Politiker aller Couleur die Impfverpflichtung nach der Wende immer wieder abgelehnt. Der ehemalige Berliner Gesundheitssenator (und Mediziner) Peter Luther war mit seiner diesbezüglichen Forderung Mitte der 90er Jahre glücklos geblieben. „Mittlerweile hat sich aber auch bei der Politik etwas bewegt“, glaubt Hartmann.

Beim Robert Koch-Institut, dem auch die Stiko zugeordnet ist, die regelmäßig aktualisierte Impfempfehlungen herausgibt, wird die Impfpflicht dagegen derzeit nicht favorisiert. „Wir möchten zunächst einmal alle vorhandenen Möglichkeiten ausschöpfen“, sagte die Epidemiologin Anette Siedler gestern dem Tagesspiegel. Noch würden verpflichtende Untersuchungen vor Eintritt in den Kindergarten und die Schule zu wenig genutzt, um Eltern auf Lücken im Impfbuch ihrer Kinder hinzuweisen. „Damit könnten wir aber eine ganze Menge erreichen“, ist Siedler überzeugt. Die meisten Impflücken entstünden nämlich aus Vergesslichkeit oder Sorglosigkeit. Dagegen könnte eine gründliche Aufklärung der Eltern über die – seltenen, aber dann sehr gefährlichen – Komplikationen der Krankheit helfen. Nur eine Minderheit sei ganz bewusst dagegen, die Kinder etwa gegen die Masern impfen zu lassen. „Wenn ringsum alle geimpft sind, fallen diese Hardliner nicht ins Gewicht.“ Denn man geht davon aus, dass eine „Durchimpfungsrate“ der Bevölkerung von 95 Prozent ausreicht, um eine ausschließlich von Mensch zu Mensch übertragbare Krankheit zum Verschwinden zu bringen. Auch der Stiko-Vorsitzende Heinz-Josef Schmitt, Kinderarzt und Spezialist für Infektionskrankheiten an der Uniklinik in Mainz, der zuletzt den zu laschen Umgang der lokalen Gesundheitsämter in NRW mit der Masernepidemie scharf kritisierte, befürwortet derzeit die Impfpflicht nicht. Mit Aufklärung, konsequenter amtlicher Aufforderung zum Schließen von Impflücken und zu Riegelungsimpfungen im Epidemiefall könne man das „Grundrecht der Kinder auf Gesundheit“ wirksamer verfechten.

Adelheid Müller-Lissner

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