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Panorama: Ohnmacht, Wut und Lügen

Selbst am dritten Tag nach dem Felsabbruch in Kairo ist noch kein schwerer Kran am Unglücksort

Der 17-jährigen Hana zittern immer noch die Hände, wenn sie von dem Samstagmorgen erzählt. „Morgens, um zehn nach sieben bin ich zur Stadtverwaltung gerannt und habe Alarm geschlagen. Ich habe ihnen gesagt, irgendetwas stimmt nicht mit dem Felsen.“ Reg dich nicht auf, war die Antwort, „wenn was passiert, sind wir zur Stelle und kümmern uns darum.“ Zwei Stunden später platzte auf sechzig Meter Breite der gewaltige Felsblock ab und zerquetschte 35 Häuser mit 500 Bewohnern – eine der größten Katastrophen der letzten Jahre in Ägypten. Wie eine offene Wunde schimmert die riesige helle Abbruchstelle an dem Massiv des Kreidefelsens.

Zur Stelle jedoch war in den ersten Stunden niemand, außer Nachbarn und Freunde, die mit bloßen Händen in Felsteilen, Hausziegeln und Hausrat wühlten, um ihre Verwandten auszugraben. 57 konnten sie verletzt bergen, 43 waren tot. Mehrere hundert Menschen werden noch unter den tonnenschweren Felsplatten vermutet. Manche meldeten sich noch per Handy. Inzwischen liegt Leichengeruch über dem ganzen Areal. Verloren stecken zwei Presslufthämmer im Fels, viele Anwohner von Duweika im Stadtteil Manschijet Nasr hocken inzwischen stumm in den schmalen Gassen ihres Slums und starren vor sich hin.

Auf das Unglück angesprochen, springen sie auf, und wie in einem Rausch entlädt sich ihre Wut: „Deutsche Experten hätten vor der Gefahr gewarnt, aber nichts ist passiert“, gestikuliert ein Mann. Andere nicken heftig und werfen die Arme gen Himmel. „Wir haben keine Angst mehr“, ruft ein weiterer und zeigt mit dem Finger um sich. Die Gassen sind voll von Polizisten, Soldaten und Offiziellen in Zivil. „Nichts ist bisher passiert zur Rettung unserer Lieben, alle Überlebenden haben wir selbst gefunden“, rufen sie, während hinter ihnen die große gelbe Planierraupe mit wüst qualmendem Auspuff vor und zurück setzt. Am Sonntag gingen die Bewohner sogar mit Steinen und Knüppeln auf die Offiziellen los. Seitdem steht alle zwei Meter ein Sonderpolizist mit schwarzem Helm, Schlagstock und Schild – und es ist gespannte Ruhe eingekehrt.

Doch selbst am Montag, dem dritten Tag nach dem Unglück, haben es die Rettungskräfte immer noch nicht geschafft, einen schweren Kran an die Abbruchstelle zu bringen. Zunächst mussten die Mannschaften in einen fünf Meter hohen Bahndamm aus kolonialer Zeit, der parallel zu der Siedlung verläuft, eine Schneise brechen. Doch alles geschieht mit quälender Langsamkeit und großzügigen Pausen, während in der brütenden Hitze die Überlebenschancen der Verschütteten praktisch auf null gesunken sind.

Die beiden beleibten ägyptischen Generäle, die am Unglücksort Regie führen, stolzieren mit weißer Uniform, Handy am Ohr und Schirmmütze durch die staubigen Trümmer und schnauzen von Zeit zu Zeit nach links oder rechts. Ihr Ramadan-Menü zum Fastenbrechen bringt ihnen am Abend ein Adjutant in zwei edlen rosa-weiß gestreiften Schachteln.

Khelil Schaat von der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), der seit fünf Jahren in der Gegend arbeitet, kann die Aussagen der Bewohner nur bestätigen. „Wir waren sehr laut und entschieden“, sagt er. Die GTZ habe Bewohner und Behörden immer wieder gewarnt, das Gebiet müsse geräumt werden – vergeblich. Auch gebe es in den Mukattam- Bergen „mindestens 25 weitere Zonen, wo keine Leute wohnen sollten.“ Mehr als eine halbe Million Menschen haben sich hier in primitiven Behausungen angesiedelt, Zuwanderer vom Land, die sich in der 17-Millionen-Metropole als Müllsammler oder Kleinhändler verdingen. Den Felsrutsch ausgelöst haben nach Aussagen von Khelil Schaat die Abwässer der Slumbewohner, die auf dem Plateau über dem Unglücksort leben. „Seit Jahren werden sie einfach in den Kreidefelsen geleitet“, sagt er. Der saugte sich voll, wurde porös – bis er am letzten Samstag um 9 Uhr 15 herunter krachte.

Eigentlich sollten alle Menschen oben auf dem Plateau längst umgesiedelt sein, um die Abwassergefahr zu stoppen, erläutert ein anderer Experte, der anonym bleiben möchte. Dazu finanzierten die Vereinigten Arabischen Emirate 1999 mit 180 Millionen Dollar eine Siedlung mit 10 000 Wohnungen, Schulen, Jugendcenter und Krankenhaus. Doch die guten Absichten gingen unter in Korruption und Missmanagement. Die Hälfte der Wohnungen ist immer noch im Rohbau, und viele der fertigen Wohnungen wurden durch korrupte Beamte des Bauministeriums an eigene Leute vergeben. Die haben sie weiterverkauft und den Profit eingestrichen.

Doch davon erfahren die Zuschauer des Staatsfernsehens nichts. Vor der Trümmerkulisse im Scheinwerferlicht lobt der Moderator die Rettungsarbeiten, sie seien effizient, professionell und er werde die Zuschauer auf dem Laufenden halten. Kaum hat er geendet, stürzt sich schimpfend eine ältere Frau auf ihn: „Wir lassen uns nicht mehr den Mund verbieten. Wir wollen die Wahrheit“, ruft sie aus. „Die Arbeiten hier gehen viel zu langsam voran, und der Staat trägt die Verantwortung für die Tragödie.“ Andere mischen sich ein und umringen den Moderator, der schließlich mit seinem Team aus dem Tumult entkommt. Zehn Minuten später an seinem Auto auf den Vorfall angesprochen, sagt er nur: „Ich weiß, die Leute haben recht.“

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