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Panorama: Ohren auf

Immer mehr Leute strömen in Planetarien, Fabrikhallen und Clubs, um live Hörkunst und Lesungen zu erleben

Von Carsten Werner

Es gibt nicht viel zu sehen: Ein Sofa, ein bisschen Licht. Aber es gibt was auf die Ohren: Worte und Musik. Die Augen dürfen Pause machen, der Hörsinn ist gefragt. In deutschen Clubs und Kneipen, Theatern und Hörsälen, aber auch in Buchhandlungen und Radionächten wird mit zunehmender Begeisterung der Ohrenlust gefrönt: Man hört wieder zu. Lange im Voraus ist das „Hörspielkino unterm Sternenhimmel“ von „Radio Eins“ regelmäßig ausverkauft. Und zu Weihnachten macht der Sender seinen Hörern ein schönes Geschenk – täglich gibt es dann ein Hörspiel und einen Konzertmitschnitt. Seltene Radiokost wie früher, als ganze Freundeskreis zusammen am Radio lauschten. Orson Welles’ Hörstück „The War of the Worlds“ regte 1938 Millionen Amerikaner auf, weil sie wirklich einem Kriegsausbruch zuzuhören glaubten.

Inzwischen droht dem Hörsinn Unterforderung: Musikradios setzen in der Jagd um Einschaltquoten heute auf eine knappe Zahl Titel, die in Endlosschleife ständig neu gemischt und wiederholt werden. „Durchhörbarkeit" ist dabei das oberste Ziel der Radiomanager – das Radio soll nicht von der Arbeit ablenken oder die Konzentration stören. Schließlich geht es nicht um Zuhörquoten – der Kunde soll vor allem nicht abschalten. Klassische Kulturradios, sogenannte „Einschaltprogramme", werden abgebaut.

Dabei scheint ein Bedürfnis viele Menschen zu treiben, ihren Hörsinn herauszufordern. Wer weder einen Fahrschein kaufen noch sich in Fernsehen oder Internet informieren kann, ohne dass etwas blinkt, hüpft oder piept, entwickelt eine Sehnsucht nach konzentriertem Hörgenuss und will vielleicht die Augen schließen, wie als Kind einer Gutenachtgeschichte lauschen oder sich von einer nahen, vertrauten Stimme zu aufregenden Reisen verführen lassen, von interessanten Erlebnissen berichtet bekommen.

Wer hören will, sucht neue, alte Wege. Das erklärt den Boom der Hörbücher, die im Gegensatz zum Buchmarkt immer noch zweistellige Zuwachsraten erzielen: 800 Neuerscheinungen kommen jährlich in die Läden, mehr als die deutschen Rundfunkanstalten an Hörspielen produzieren. Gemeinsam mit den Hörbuch-Verlagen verwerten die Sender auch ihre prall gefüllten Archive – und finden neue Vertriebswege. Auf dem Markt sind Lesungen, Hörspiele, Features und Reportagen – 9000 Titel, vom Live-Mittschnitt bis zur komplexen Soundcollage alles, was sich auf Tonträger bannen lässt. Der neueste Trend sind Sach-Features und O-Ton-Collagen. Audiobooks fehlen in keiner Buchhandlung und Bibliothek, sogar Aldi hat sie im Sortiment.

Vorteil der Cassetten und CDs gegenüber dem Radio: Man kann sie immer und überall hören, Dosis und Inhalt selbst bestimmen. Das ist den Konsumenten – anders als Radioprogramme – bares Geld wert: Die Branche macht einen Jahresumsatz von rund 45 Millionen Euro. Die Auflagen liegen meistens zwischen 3000 und 5000 Stück – mehr, als manches Schlagersternchen verkauft.

Rufus Beck hat viel für die Hörbuch-Branche getan: Für den „Harry Potter“ des Schauspielers gab es Platin, 1,3 Millionen mal wurde er verkauft. Aber Beck spricht noch viel mehr: „Die Identität“ von Milan Kundera oder das Poem „Die Welt ist rund“ von Gertrude Stein – 130 Produkte spuckt die Amazon-Suchmaschine im Internet aus, wenn man nach Becks Stimme sucht. Live sind seine Lesungen ständig ausverkauft.

Als „Hörspielklub Hamburg“ reproduzieren Studenten der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg „Die drei ???“-Hörspiele als Live-Aufführung mit Musik. Auch die Original-Sprecher der „Drei Fragezeichen“, vor 20 Jahren schon als Kinder für das Kassetten-Label „Europa“ im Einsatz, füllen jetzt als Erwachsene plötzlich Konzertsäle.

Schriftsteller wie Falk Richter („Gott ist ein DJ“), Feridun Zaimoglu und Sibylle Berg reagieren ebenfalls auf die neuen Hörgewohnheiten. Ihre Auftritte sind keine knochentrockenen Lesungen mehr am Tischchen mit Wasserglas. Zum Setting gehören ein paar Mikrofone und CD-Player. Sie zelebrieren Performances zwischen Live-Hörspiel, Talk-Happening und Klangkunst, oft bereichert mit Live-Musik. Der Autor Michael Lentz hat über „Lautpoesie und -musik nach 1945“ promoviert, begnügt sich aber nicht mit Theorie: Sein Buch „Muttersterben“ kann man zwischen moderner Literatur, Dada und dem Witz von Helge Schneider auch live in Literaturhäusern erleben – oder per Hörbuch.

Der freien Szene, schon jahrelang in Slampoetry-Wettbewerben aktiv, ermöglichen Computertechnik und günstige Software jetzt auch die Produktion eigener Hörkunst.

Das Schauspielhaus Zürich veranstaltet eine ganz simpel „Monolog“ betitelte Reihe: Jeweils einmalig treffen sich ein Schauspieler, ein Text - und ein Publikum. Das Junge Theater Bremen widmet dem Hörsinn „Zeichen und Wunder“: Regisseure, Autoren, Musiker und Schauspieler präsentieren Kunst, die aufs Ohr zielt. Sie alle schaffen einen Rahmen für konzentriertes, gemeinsames Hören. Peter Lau, Redakteur des Wirtschaftsmagazins „brand eins“ hat am letzten Adventssonntag seinem Publikum einfach gute Schallplatten vorgespielt, denn „es ist Musik, die Schuld hat an den schönen Dingen“, sagt er – „Musik, die glücklich oder melancholisch macht und uns über den Winter bringt oder die man unbedingt noch für seine Lieben kaufen muß, wenn am Montag die Geschäfte öffnen.“ In seiner Zeitungskolumne empfiehlt er regelmäßig solche Töne, die Hörer brauchen, aber im Radio kaum noch bekommen.

Auch Helmut Zerlett erteilt Unentschlossenen in der Harald-Schmidt-Show regelmäßig seinen musikalischen „Kaufbefehl“.

Auf der Suche nach hörenswerten Worten und Klängen empfiehlt Peter Schulze, Musikredakteur bei Radio Bremen und neuer Leiter des Berliner Jazzfestes, sich an den Fähigkeiten Blinder zu orientieren: „Bei denen, deren Hörfähigkeit besonders ausgeprägt ist, kann die Weiterentwicklung einer Kultur des Zuhörens beginnen“, sagt er. Ein Blindenradio böte Sendungen, „die akustisch die Welt vermitteln, ohne anbiedernde, falsche Töne“ – und für alle, die zuhören wollen.

So lange Künstler und Medienmacher vom Hörsinn fasziniert sind, gibt es also Hoffnung auf mehr gutes Gehörfutter.

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