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Polen

© Ulrike Thiele

Ostdeutschland: Die Polen kommen

Löcknitz, eine Gemeinde im östlichsten Mecklenburg-Vorpommern, direkt an der deutsch-polnischen Grenze: Nur wenige Kilometer weiter liegt Stettin. Immer mehr Einwohner der polnischen Großstadt flüchten vor hohen Mieten und Autoabgasen in die deutschen Dörfer nahe der Grenze. Dort, in einer der ärmsten Gegenden Deutschlands, bringen sie für einige Hoffnung – für andere Anlass zu Neid und Feindseligkeit.

Elf Kilometer von Löcknitz entfernt begann einst das arme Polen. Gleich hinter dem Grenzübergang mit den beigen Containerhäuschen, stand ein kleiner gelber Kiosk, der 24 Stunden geöffnet hatte. Zigaretten kosteten hier nur halb soviel, wie in Deutschland. Ein paar Meter weiter drängten sich Tankstellen am Straßenrand, an deren Säulen Autos mit deutschen Kennzeichen Schlange standen und auf günstigen Sprit warteten. Auf der Jagd nach Schnäppchen trugen die Deutschen aus dem Grenzgebiet am Wochenende ihr Geld dorthin und fuhren wieder zurück in ihre Dörfer im nordöstlichsten Zipfel der Bundesrepublik. Auf ihrer Fahrt kamen sie an verfallenen Häusern mit verwilderten Gärten vorbei, in denen rostende Autokarosserien standen. Für sie gab es im armen Polen nichts, was das Verweilen lohnen würde.

Heute liegen die gelben Container am Grenzübergang verwaist in der Landschaft. Kein grün uniformierter Beamter sitzt in dem Stübchen und fragt nach dem Ausweis. Auch in dem gelben Zigarettenhäuschen rührt sich nichts mehr. Sprit ist hier wie dort genauso teuer und der Grenzverkehr läuft seit einiger Zeit von Ost nach West - von Polen nach Deutschland. Seit das Land der EU 2004 und dem Schengen-Raum 2008 beigetreten ist, ziehen immer mehr Polen aus der grenznah gelegenen Großstadt Stettin nach Löcknitz und die umliegenden Dörfer. Sie bringen das Bild des armen Polen irgendwie durcheinander.

"Das ist die große Chance für uns". Lothar Meistring, der Bürgermeister von Löcknitz sitzt mit hochgekrempelten Ärmeln in seinem Büro. Er spricht laut, so dass die Worte in dem Raum mit den hohen Wänden widerhallen und zwischen den Sätzen, die er sagt, ist kaum Platz für Pausen. Seine Gemeinde im äußersten Nordosten Deutschlands profitiert von den neu Zugezogenen. In den vergangenen fünf Jahren, also etwa seit dem EU-Beitritt Polens, ist die Einwohnerzahl in Löcknitz von 2900 auf 3200 angestiegen. Heute ist jeder 14. Löcknitzer ein Pole.

Leute, die die Gegend braucht

Die, die kommen, sind jung, gut ausgebildet und haben meist Arbeit im polnischen Szczecin (Stettin), einer Stadt mit 400.000 Einwohnern, 16 Hochschulen, einem Seehafen und einer wachsenden Wirtschaft. Sie haben Zukunftspläne und sie bringen auch ihre Kinder mit. Einige gründen Unternehmen und schaffen damit Arbeitsplätze. Es sind Leute, die diese Gegend braucht, um aus ihrer Tristesse zu entkommen. Denn Löcknitz liegt im Uecker-Randow-Kreis, einem der ärmsten Landkreise in Deutschland. Seit der Wende hat die Gegend 20 Prozent ihrer Einwohner verloren, Arbeitslosigkeit und mangelnde Perspektiven haben die Menschen aus dem hauptsächlich von Landwirtschaft, Fischerei und Armeekasernen geprägten Gebiet vertrieben. Zurück blieben leer stehende Wohnungen in Plattenbauten und verwaiste Grundstücke.

Die Gemeinde ist attraktiv für die Stettiner. Sie liegt in der Nähe ihrer Heimatstadt, so ist es nicht weit zur Arbeit oder zur Familie in Polen. Die Natur ist unberührt, die Luft frei von Autoabgasen. Es gibt Kindergärten und Schulen in Löcknitz, darunter auch das Europagymnasium, in dem deutsche und polnische Schüler gemeinsam lernen. Vor allem aber locken im äußersten Nordosten Deutschlands die Mieten und Grundstückspreise, die um ein vielfaches geringer sind, als in Stettin. Die Polen, die hierher gezogen sind, haben den Leerstand in den Plattenbauwohnungen nahezu beseitigt.

Mitten im Einzugsgebiet von Stettin - wie früher

Die Geografie von Löcknitz und anderen Dörfern in der Nähe scheint sich verschoben zu haben. Weg vom äußersten Rand Deutschlands, mitten hinein ins Einzugsgebiet der Großstadt Stettin. So wie es auch vor dem Zweiten Weltkrieg schon mal war, als das Gebiet am Stettiner Haff zum Naherholungsraum der Stettiner gehörte - die damals allerdings noch Deutsche waren. "An der gesamten östlichen Grenze von Deutschland finden sie keine solche Konstellation, dass eine so große Stadt direkt in der Nähe ist", sagt Bürgermeister Meistring. Das meint er, wenn er von "großer Chance" spricht. Doch nicht alle Bewohner seiner Gemeinde können seinem Enthusiasmus folgen.

Wie die junge Frau am Gartenzaun zum Beispiel. Mitten am Tag lehnt sie dort und schaut auf die leere Straße, ohne ihren Blick auf einen bestimmten Punkt zu richten. Sie sieht dünn aus und sehr blass, ihre rotgefärbten Haare hat sie zu einem dürren Zopf zusammengebunden. Um ihren Hals hängt eine Kette mit einem keltischen Symbol. Eigentlich möchte sie mit einer Fremden nicht über die Polen reden. Zögernd beginnt sie dann doch. Begeistert sei sie nicht, dass die jetzt nach Löcknitz kommen. Ihre Freundin habe wegen denen keine Wohnung bekommen, die Immobiliengesellschaft gab die Vierraumwohnung an eine polnische Familie mit Kind. Außerdem würden die Polen überall in der Stadt bevorzugt. Vom Bürgermeister, der ihnen billiger die Häuser verkauft und ihnen Kindergeldanträge ausfüllt.

Gegen solche Gerüchte muss Meistring ständig ankämpfen und er tut es mit einer erstaunlichen Ausdauer und Vehemenz. "Wenn erzählt wird, dass die polnischen Bürger besonders gefördert werden, wenn sie hier Immobilien kaufen, das ist der größte Blödsinn", schimpft er. Auch Anträge fülle er ihnen nie aus, "ich weiß gar nicht, wie so ein Antrag überhaupt aussieht". Als in diesem Jahr ein polnischer Frisör eröffnet hat im Ort, da hieß es, er habe sich mehr darüber gefreut, als wenn es ein deutscher gewesen wäre. So habe es jedenfalls ausgesehen, als die Zeitung zur Eröffnung ein Bild gebracht hat, auf dem zu sehen ist, wie Meistring sich die Haare schneiden lässt.

"Die Leute hier erleben einen Kulturschock", erklärt es Heidrun Hiller. Die 41-jährige mit dem lockigen Haar und dem freundlichen Gesicht arbeitet bei der Regionalen Agenda 21, einem kommunalen Entwicklungsprogramm, das sich auch mit der deutsch-polnischen Zusammenarbeit beschäftigt. Im Klartext bedeutet dieser Kulturschock: Die Polen waren jahrzehntelang die Armen, die denen es schlecht ging. Wenn sie jetzt hierher nach Deutschland kommen, Geschäfte eröffnen, sich Häuser und Grundstücke leisten können, also das schaffen, was die Deutschen hier nicht schaffen, dann kann das nicht mit rechten Dingen zugehen. "Es hat den Menschen hier doch keiner erklärt, was passieren wird, wenn die Grenzen erstmal offen sind", beschreibt Heidrun Hiller die Situation. Und das liege auch an der Stadtverwaltung und am Bürgermeister. Die hätten nicht genug für die Integration und die Verständigung zwischen Polen und Deutschen getan.

Über die Ängste, den Neid und die Vorurteile müsse man reden, findet sie. Und auch über Probleme, die entstehen, wenn Polen und Deutsche zusammen in einem Haus wohnen, aber einander nicht verstehen. Über das Gefühl des Ausgegrenztseins der polnischen Bewohner, mit dem Ergebnis, dass auch sie sich abschotten und eigene Communities bilden. "Die einzige Partei, die daraus ein Thema macht, ist hier die NPD", schimpft Heidrun Hiller. Die Rechtsextremisten schüren den Neid und die Ängste der Menschen und fahren mit Parolen wie "Grenzen dicht, Löcknitz soll deutsch bleiben" Wahlergebnisse von 18 Prozent ein. Und Anfang des Jahres wurden bei neun polnischen Autos die Scheiben eingeschlagen und polenfeindliche Parolen wie an Häuserwände geschmiert.

Polnischer Unternehmer investiert 1,2 Millionen Euro

Am Telefon meldet sich eine Männerstimme, sie klingt jung, beinahe jungenhaft. Ja, er ist hier der Chef. Der Betrieb könne jederzeit beginnen, sobald die Bauabnahme vonstatten gegangen ist. Marcin Baryliszyn spricht fließend und mit wenig Akzent deutsch und er erklärt, dass schon viele Bewerbungen auf seinem Tisch liegen. Er ist Betriebsleiter des neuen Standorts der polnischen Fleischmannschaft AG, die ihren Hauptsitz im 120 Kilometer entfernten Swidwin hat. Wenn das Werk in Löcknitz demnächst mit der Produktion beginnt, werden hier Gewürzmischungen für Fisch und Fleisch hergestellt. Dafür will die Firma sechs Mitarbeiter einstellen.

Der 34-Jährige erklärt am Telefon, warum davon nur zwei deutsch sein werden und vier polnisch. "Sie bringen das Know-How aus Polen mit, wir brauchen sie, damit sie den Deutschen erklären, wie die Arbeit in unserem Werk läuft". Er hat keinen Grund, sich zu verteidigen, immerhin hat seine Firma in der Gegend bereits 1,2 Millionen Euro investiert, die zum großen Teil an einheimische Baufirmen gingen und zwei Arbeitsplätze sind besser als keiner. Aber er tut es trotzdem. Es scheint nicht das erste Mal zu sein, dass er sich erklären muss.

Trotzdem: Die Arbeitsplätze, die die polnischen Unternehmer hier schaffen, sie werden die Leute in Löcknitz eines Tages überzeugen, ist Bürgermeister Meistring überzeugt. "So wird den Rechten das Wasser abgegraben", sagt er. Die Geschichte, dass ein stadtbekannter Rechtsradikaler als Fliesenleger das Haus eines Polen im Nachbarort verschönert hat, erzählt er den fern angereisten Journalisten gern. Geschichten wie diese braucht es und ein wenig Zeit, meint Meistring. "Das ist ein Prozess. In zehn Jahren wird das Zusammenleben normal sein, dann wird jeder begriffen haben, dass beide Seiten etwas davon haben."

"Eine Weltreise für alle Löcknitzer"

Es ist große Pause im Deutsch-Polnischen Gymnasium, das zwischen See und Kiefern eingebettet liegt. Scharen von Schülern strömen aus dem Gebäude und verteilen sich auf dem Pausenhof. Polnische und deutsche Wortfetzen schwirren durch die Luft. Schon seit 1994 lernen hier deutsche und polnische Schüler gemeinsam und schließen ihre Ausbildung mit dem deutschen Abitur oder dem polnischen Matura ab. Nur wenige Meter davon entfernt liegt die Regionale Schule Löcknitz. 200 Schüler lernen dort, in diesem Jahr sind 32 polnische darunter. Olaf Thaler, der Vorsitzende des Schulvereins wünscht sich, dass auch hier eines Tages das Zusammenlernen von polnischen und deutschen Schülern so klappt, wie im Gymnasium. "Eine Weltreise für alle Löcknitzer"

Der 47-Jährige trägt trotz des kühlen Wetters noch Sandalen, er spricht leise aber mit eindringlichem Tonfall. Er erzählt von polnischen Schülern, die in die Schule kommen und kein Wort deutsch sprechen, von Grüppchenbildung auf dem Schulhof und von Eltern, die Sorge haben, die Lehrer würden sich nicht mehr ausreichend um die Kinder kümmern. Thaler ist kein Mann, der mit der Faust auf den Tisch haut, er ist Künstler und engagiert sich mit Ideen. Eine solche Idee ist die, dass alle Kinder und Eltern gemeinsam den Schulhof verschönern, Polen und Deutsche. "Dazu braucht man keine gemeinsame Sprache." Und dann ist da noch so eine Idee, die in seinem Kopf rumschwirrt: "Vielen Menschen hier in Löcknitz würde ich am liebsten eine Weltreise schenken. Damit sie mal sehen, wie groß, wie unterschiedlich und wie schön die Welt ist".

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