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Stevia-Plantagen gibt es weltweit, wie hier in Kenia. Nur im Ursprungsgebiet in Paraguay ist die Pflanze kaum noch zu finden.

© imago

Paraguay: Stevia - bittere Süße

Die Pflanze Stevia wurde lange Zeit von den Ureinwohnern Paraguays im Alltag genutzt – bevor Konzerne mit ihr Milliarden verdienten. Nun fordern Menschenrechtler eine Entschädigung.

An der Bundesstraße Nr. 5 zwischen Paraguay und Brasilien liegt das Tor zum Nabel der Guaraní-Welt. Es ist aus Holz und seit Kurzem mit einem Vorhängeschloss gesichert. Denn Gastfreundschaft kann auch zum Verhängnis werden, wie Luis Arce gelernt hat. „Vor etwa 40 Jahren kamen die Japaner“, erinnert sich der 60-jährige Guaraní-Chef.

Es muss eine ziemliche Tortur gewesen sein. Damals führten nur Trampelpfade in die Indigena-Gemeinde Ita Guasú. Bis heute gibt es dort weder Strom noch fließend Wasser. Die Menschen leben in einfachen Holzhütten und kochen ihr Essen über offenem Feuer. Kindersterblichkeit, Mangelernährung und Analphabetismus sind deutlich höher als im Rest Paraguays. Aber die Japaner wussten, wonach sie in dieser einsamen Gegend im Grenzgebiet suchten: nach dem Süßkraut Stevia rebaudiana.

„Mein Vater zeigte ihnen bereitwillig die Pflanze“, erinnert sich Arce. Eigentum gibt es in der Weltanschauung der Guaraní nicht; die Natur schenkt den Menschen, was sie brauchen, und deshalb darf man ihr auch nur so viel entnehmen, wie man unbedingt benötigt.

"Unmoralisches Verhalten" der Industriestaaten

Doch die Logik der japanischen Wissenschaftsmission, die mit Erlaubnis der paraguayischen Regierung das Land nach interessanten Pflanzen absucht, war eine andere. „Kurz darauf kamen sie zurück, gruben alle Sträucher aus, die sie fanden, und gingen wieder“, erzählt Arce. Was für die Guaraní und für Paraguay zu einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte hätte werden können, war zu Ende, noch bevor es richtig begann.

„Biopiraterie“ nennen Nicht-Regierungs-Organisationen wie Public Eye aus der Schweiz so ein Vorgehen. Seit 1993 soll eine UN-Konvention über Biodiversität derartigen Missbrauch mit dem Wissen der Urvölker ohne Einwilligung und ohne Vorteilsausgleich verhindern. „Aber die Konvention gilt nach Interpretation der Industrieländer nicht rückwirkend“, klagt Francois Meienberg von Public Eye. Die Organisation fordert dennoch zumindest freiwillige Ausgleichszahlungen an die Guaraní.

Das Verhalten der Industriestaaten sei „unmoralisch“, kritisiert der ehemalige Präsident der staatlichen Saatgutbehörde Senave, Miguel Lovera. „Europa hat uns verraten.“ Die Druckserei der Industriestaaten hat einen guten Grund: Die Stevia ist im Zentrum eines Milliardenpokers der Lebensmittelindustrie. Zucker ist gesundheitsschädlich, und wir essen viel zu viel davon – diese Erkenntnis hat sich trotz gegenteiliger Propaganda inzwischen herumgesprochen. Die Jagd auf gesunde Süße hat begonnen, und die Stevia – enthalten zum Beispiel in „Cola Life“ – steht im Zentrum der Forschungen. Schon heute werden mit Produkten, in denen Steviolglykoside enthalten sind, bis zu zehn Milliarden US-Dollar umgesetzt.

Bitterer Nachgeschmack

Ein Biologe aus dem Tessin entdeckte die Stevia bei einem Paraguay-Aufenthalt 1887 und machte sie auch in der „alten Welt“ bekannt. „Ein kleiner, wenige Millimeter großer Blattschnipsel hinterlässt im Mund über eine Stunde lang einen süßen Geschmack; wenige Blätter süßen einen starken Kaffee oder Tee“, schrieb Moises Bertoni. 1931 untersuchten französische Chemiker das Kraut. Dabei kam heraus, dass die Stevia mehrere Glukosemoleküle enthält – im Gegensatz zum handelsüblichen Zucker. Das macht sie nicht nur zahn- und figurfreundlich, sondern auch verträglich für Diabetiker. Außerdem bleibt sie anders als Süßstoffe auch bei hohen Temperaturen stabil.

Nachteil der Naturform ist allerdings ein bitterer Beigeschmack. Den wollen Konzerne wie die Schweizer Evolva nun dank synthetischer Herstellung herausfiltern. Doch selbst dann hält Meienberg Ausgleichszahlungen für nötig: „Die Firmen wissen ja nur dank dem Wissen der Guaraní, dass Stevia süßt, und nutzen Gensequenzen der Pflanze.“

Bis heute sind die Urheberrechte oder Kompensationszahlungen für die Guaraní auf staatlicher Ebene kein Thema, nicht einmal bei der paraguayischen Menschenrechtskommission hat man sich damit befasst. Der Rechtsweg wäre mühsam. Ein Fonds ginge schneller, setzt aber eine Vereinbarung zwischen den über vier Länder weit verstreut lebenden Guaraní und den Konzernen voraus.

In Ita Guasú ist heute weit und breit keine Stevia mehr zu sehen, klagt die 97-jährige Amalia Valiente. Die Ältesten glauben, die Pflanze grolle ihnen wegen des Ausverkaufs an die Japaner. Seit zwei Generationen wird sie von den Guaraní nicht mehr genutzt – auch, weil sie kaum noch zu finden ist. Es gäbe einen Bach, erinnern sich die Alten, wo es vielleicht noch ein paar Wildformen gäbe. Doch der liegt auf einer eingezäunten Rinderfarm. Von dem Garten Eden, in dem die Guaraní einst ihr Auskommen fanden, bleiben ihnen nicht mehr als 5000 Hektar. Jede durchschnittliche Hacienda in dieser Region hat 10 000 Hektar.

Die Reportage entstand dank eines Stipendiums des Deutschen Instituts für Menschenrechte.

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