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Panorama: "Paul Schatz im Uhrenkasten": Und reiß dir Arme und Beine aus

"Man muss aus seinem Leben eine Geschichte machen", sagt Paul, "Hand und Fuß sollte sie haben und komisch sein. Wenn sie nicht komisch ist, wenn man nicht zappelt und strampelt in seiner Geschichte, wenn man sich nicht Arme und Beine ausreißt und in Mustopf und Fettnapf tritt, wird man sein Leben nicht los!

"Man muss aus seinem Leben eine Geschichte machen", sagt Paul, "Hand und Fuß sollte sie haben und komisch sein. Wenn sie nicht komisch ist, wenn man nicht zappelt und strampelt in seiner Geschichte, wenn man sich nicht Arme und Beine ausreißt und in Mustopf und Fettnapf tritt, wird man sein Leben nicht los! (...) Was sage ich, loswerden kann man seine Vergangenheit nicht. Man muss aus seinem Leben eine Geschichte machen, um bei Verstand zu bleiben, ja, am Ende, wenn es eine erstklassige Geschichte ist, meint man, sie sei einem anderen passiert." So umreißt Paul Schatz, die Hauptfigur in Jan Koneffkes zweitem Roman "Paul Schatz im Uhrenkasten" seinen Lebensgrundsatz. Wenn es ihm gelang, als Kind eines jüdischen Vaters in Berlin das Dritte Reich und den Krieg zu überleben, dann nur deshalb, weil das Geschichtenerfinden in dieser Zeit sein Rüstzeug gewesen ist.

Ein Autor wie Jan Koneffke, 15 Jahre nach Kriegsende geboren, muss gute, fast schwer wiegende Gründe haben, um sich diesem ebenso heiklen wie überstrapazierten Thema zuzuwenden. Denn natürlich wird ein solches Buch nicht nur unter literarischen Gesichtspunkten gelesen. Wohl überlegt ließ Günter Grass den kleinwüchsigen Oskar Matzerath - er könnte Pauls böser großer Bruder sein - zum erzählerischen Mittelpunkt seines großen Zeitromans werden: In der Figur des kindlichen Gnoms verschmelzen grotesker und naiv-decouvrierender Blick, und die 1959 neue und provozierende Erzählperspektive vertreibt nicht nur alle Idyllik, zu der das Thema einen anderen Autor vielleicht verleitet hätte, sondern bringt auch Ekel und Scham, Selbsthass und quälende Sexualität eines kleinbürgerlichen Milieus ins Spiel.

So klar (oder verworren) liegen die Dinge bei Koneffke nicht. Paul ist eigentlich ein ganz normales Kind, das allerdings durch die Zeit und die Umgebung, in der es aufwächst, gründlich aus dieser Normalität heraus- und in neue Rechfertigungszwänge hineinkatapultiert wird. Seine deutsch-spießbürgerliche Familie lebt im Berliner Scheunenviertel, dem Revier der armen, orthodoxen (Ost-)Juden; der Hausierer, Scherenschleifer und Lumpensammler. Nach dem Krieg war die ganze Gegend, einschließlich ihrer Bewohner, verschwunden - ausgebombt, geplündert, die meisten Bewohner ermordet. Pauls Familie, und das ist ein gelungener Kunstgriff, ist ein Fremdkörper in diesem Quartier. Das zwingt Paul von Anfang an in die Rolle des Außenseiters, des Beobachters. Der imposante Großvater, von seinem Enkel gleichermaßen geliebt und gefürchtet, hasst Hitler, ist aber zugleich leidenschaftlicher Antisemit. Der Rechnungsrat im Reichspostministerium und Logenmeister besteht despotisch auf einer traditionellen Familienführung; ein Beharren, das Pauls Mutter das Leben kosten und Paul in schwerste Gewissensnöte bringen wird.

Man könnte, auch was den Rahmen der Handlung angeht, durchaus Parallelen zur "Blechtrommel" ziehen. Beide Male geht es um deutsche Schicksale in der Vorkriegs-und Kriegszeit, wird erzählt aus der Froschperspektive. Es gibt den lebenslustigen, vom Sohn ungeliebten Vater, der in der erweiterten Familie erotische Verwirrungen anrichtet, und es gibt als Gegengewicht zu allen Auflösungserscheinungen das bornierte kleinbürgerliche Milieu. Doch überwiegen die Unterschiede: Paul ist kein infantil-boshafter Oskar Matzerath. Und die im Zentrum des Romans stehende, beherrschende Figur des Großvaters setzt bei seinem Neffen einen Ablösungs-und Selbstfindungsprozeß in Gang, der noch dadurch erschwert wird, dass sich Politisches und Privates vermischen. Träumte Paul, solange er klein war, davon, seinem Großvater entgegentreten zu können und kein kleiner Herr Niemand mehr zu sein, so wird ihm bald klar, dass er sich gegen ganz andere Mächte behaupten muss. Doch zunächst retten ihn die großväterlichen Uhren noch. Ihre Rädchen, Gewichte und Zeiger halten für den Heranwachsenden die Welt im Innersten zusammen, wenn Hass und Gewalt, wie nach dem Tod des Großvaters 1933, nicht nur die Straße beherrschen, sondern aus allen Ecken der elterlichen Wohnung zu kriechen scheinen.

In der Vorstellung seines Neffen sitzt der Logenmeister Haueisen lebendig wie eh und je in seiner unterirdischen Geheimloge und beobachtet den Gang der Geschichte, bestimmt ihn vielleicht sogar: "Bediente Großvater Haueisen in seiner schalldichten Kammer mit Pritsche und Hollerithmaschinen, die Lochstreifen ausspuckten, Messskalen, bebenden Zeigern in schwarzem und rotem Bereich, einen Hebel und rettete seinen Enkel? Haueisens Kommandozentrale war aus Eisen und stemmte sich gegen Sand und Steine, Wasser, erkaltete Lava, Kohlen und Erz, Dinosaurierskelette, vergrabenes Gold, gegen Abfall und Schutt. Ein Tunnelsystem verband sie mit anderen Kommandozentralen, wo andere Logenmeister hockten, und einer gigantischen Halle, nahe beim Erdmittelpunkt, wo man sich traf und beim Schachspiel Regierungen absetzte, Attentate beschloss, medizinische und physikalische Entdeckungen plante."

Paul, der verlängerte Arm dieses modernen Alchimisten, träumt von der Rettung der bereits Deportierten des Viertels durch Fluchten im Fesselballon. Das Bild des unterirdischen Logenmeisters in seiner Weltuhr; die leidenschaftliche Hingabe, mit der Paul an seine innere Welt glaubt; seine Liebe zur Musik, zur Astrologie und zur verfallenden Schlossbibliothek in Quedlinburg (wo er den Krieg überlebt) - all das könnte einer Erzählung E. T. A. Hoffmanns entstammen.

Je älter Paul wird, desto unbedingter setzt er auf die rettenden Kräfte der Fantasie. Inzwischen hat sich um ihn herum die DDR konstituiert, doch das beeindruckt den Alternden wenig. Sein Lebenswerk ist und bleibt es, das untergegangene Scheunenviertel mit seinen Bewohnern durch Erzählen und Erinnern wieder lebendig werden zu lassen. Die gigantische Uhr, die er am Ende seines Lebens baut, steht für ein Zeitkontinuum, das von der Vergangenheit aus in die Zukunft greift. Jan Koneffke erzählt die Geschichte eines Kindes in schwieriger Zeit als Fortgang einer Überlebensstrategie, die ursprünglich nur auf die Phantasie setzt, sich aber immer wieder auf den Alltag zurückverwiesen sieht. Es ist eine der Stärken dieses Buches, nicht die eine Ebene gegen die andere auszuspielen, sondern beide so ineinander zu verschränken, dass der Traum über die Wirklichkeit nachdenkt und umgekehrt. So entsteht eine ironische, manchmal fast schon komödienhafte Brechung der realen Ereignisse.

Nicole Henneberg

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