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Panorama: Pflichtkurse für Eltern?

Jugendforscher Hurrelmann stößt mit seiner Forderung auf Kritik – heute stellt er die Shell-Studie vor

Von Andreas Oswald

Müssen demnächst alle Eltern einen Pflichtkurs in Erziehung nehmen, bevor sie ihre Kinder in die Kita und in die Grundschule schicken dürfen? Genau das hat der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann in der „Zeit“ gefordert. Hurrelmann ist der Leiter der Shell-Jugendstudie, die heute in Berlin vorgestellt wird. Diese Studie gilt als eine der wichtigsten Jugendstudien Deutschlands, sie wird alle vier Jahre veröffentlicht.

Hurrelmann schätzt, dass 15 Prozent aller Eltern mit der Erziehung völlig überfordert sind. Diese Überforderung stehe in einem engen Zusammenhang mit mangelnder Bildung und Armut. „Armut macht die Menschen unsouverän, Väter verlieren ihre Rolle, Mütter ihre Gelassenheit, es entsteht eine Atmosphäre der Haltlosigkeit, oft kommen Alkoholprobleme hinzu, und die Kinder wachsen an der Grenze der Verwahrlosung auf“, sagte Hurrelmann der „Zeit“. Schlecht erzogene Kinder bedeuteten einen gewaltigen ökonomischen Nachteil für das Land.

Die Forderung nach Pflichtkursen für Eltern stieß bereits gestern auf Widerspruch. Der Jugendsoziologe Wolfgang Gaiser vom Deutschen Jugendinstitut in München sagte dem Tagesspiegel, es sei richtig, Eltern vorzubereiten, ob aber Pflichtkurse der richtige Weg seien, sei fraglich. Der Hannoveraner Jugendforscher und Kriminologe Christian Pfeiffer äußerte sich gegenüber dem Tagesspiegel äußerst skeptisch zu Hurrelmanns Forderungen. Pfeiffer hält Pflichtkurse für Eltern für einen „wunderbaren Wunsch, aber er ist unrealistisch“. Pfeiffer hält es für besser, Vorbilder aus Australien und Neuseeland zu betrachten. Eltern, deren Kinder in den Kindergarten gehen, besuchten dort freiwillig Programme, in denen unter anderem spannende Filme über Erziehung und Lebensbewältigung gezeigt würden. Solche Programme sollten auch in Deutschland eingeführt werden, sagte Pfeiffer.

Laut Shell-Studie führen latente soziale Ängste bei Jugendlichen nicht zu Renitenz und Auflehnung, stattdessen ständen Anpassung, extreme Leistungsorientierung, Fleiß, Zuverlässigkeit, Höflichkeit und Pünktlichkeit hoch im Kurs. Die aktuelle Diskussion um Disziplin, wie sie vor allem der Ex-Direktor des Internats Schloss Salem mit seinem Buch „Lob der Disziplin – eine Streitschrift“ angestoßen hat, gehe an der Wirklichkeit vorbei. „Man sieht eine Generation, die alle Erwartungen der Gesellschaft nach Verantwortung, Leistungsbereitschaft und Familiensinn erfüllt“, heißt es in der Studie. „Mädchen reagieren auf den erhöhten Druck mit depressiven Verstimmungen und psychosomatischen Störungen, Jungen versuchen den Druck aggressiv nach außen loszuwerden“, sagte Hurrelmann der „Zeit“.

In diesem Punkt stimmt der Jugendforscher Pfeiffer zu. Dem Tagesspiegel sagte er: „In Deutschland fehlt es Kindern und Jugendlichen nicht an Disziplin, sondern an Herausforderungen und an Anerkennung für Dinge, die Lust auf Leben wecken und spannend sind.“ Was Deutschland brauche, seien Ganztagsschulen mit einem faszinierenden Nachmittagsangebot von Sport, Kultur und sozialem Lernen. Auch hier seien andere Länder wie Neuseeland vorbildlich. Sie böten den Schülern ein umfangreiches Nachmittagsangebot, wie es in Deutschland eine Alternative zu den trostlosen Nachmittagen vieler Jugendlicher mit übermäßigem Fernsehkonsum sein könne. Wolfgang Gaiser vom Deutschen Jugendinstitut sagte, Regeln und Strukturen seien gut für Kinder. Abmachungen sollten getroffen und eingehalten werden. „Aber Disziplin von oben mit einseitigen Anordnungen führen nicht zu adäquatem Verhalten.“

Die „Zeit“ veröffentlicht in ihrer heute erscheinenden Ausgabe vorab zahlreiche Einzelheiten aus der Shell-Studie. Danach blicken Jugendliche an den Hauptschulen mit deutlich geringerem Optimismus in die Zukunft – 38 Prozent – als Gymnasiasten. Bei denen sind 57 Prozent optimistisch. Zehn Prozent verlassen die Hauptschule ohne Abschluss, neun Prozent aller Jugendlichen haben ein schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern. Mehr als zwei Drittel fürchten sich vor Arbeitslosigkeit. Vor vier Jahren waren es 55 Prozent. 58 Prozent plädieren dafür, in Zukunft möglichst weniger Zuwanderer als bisher in Deutschland aufzunehmen.

Hurrelmann sieht es als besonders problematisch an, dass Jugendliche immer weniger Möglichkeiten haben, sich von den Eltern abzugrenzen. Eltern würden den Kindern immer ähnlicher. „Die Tochter kommt mit einer provokanten Frisur nach Hause und die Mutter fragt nach der Adresse des Friseurs, statt sich aufzuregen. Wie soll sich das Mädchen da abgrenzen?“

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