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Piratenserie Teil I: Mythos und Wirklichkeit der Piraten

Ein Wort hat Hochkonjunktur: Piraten. Sie gelten als Traumfiguren des freien Lebens. Und waren in Wirklichkeit gemeine Verbrecher. Wie kam es zu dieser Umwertung?

Der Pirat, das weiß jeder, trägt eine schwarze Augenklappe, zweitens ein Kopftuch, drittens ein Holzbein, viertens einen Säbel und fünftens zerlumpte Kleidung. Unsinn, sagt Hartmut Roder, der Pirat trägt Nadelstreifen. Und dabei blickt er streng durch seine Halbbrille.

Ach? Nadelstreifen? Das muss erklärt werden.

Gerne. Aber erst später.

Zweiter Versuch: Der Pirat ist die Traumfigur der Freiheit, Inbegriff des ungebundenen Lebens, Gegenbild zum Bourgeois, zum Spießer. Abenteurer, Rebell, Visionär des Andersseins. Unsinn, sagt Hartmut Roder, der Pirat ist ein Verbrecher, ein Mörder, Dieb, Räuber, Betrüger, Erpresser, Vergewaltiger. Und den Brillenblick aus seinen blauen Augen streift jetzt ein Zorn.

Hartmut Roder ist ein Spezialist der Seeräuberei, einer von Deutschlands Oberpiraten. Nein, keineswegs einer von jener Partei, die seit einigen Monaten die Landtage entert, Gottbewahre, mit denen will er nichts zu tun haben, und der Zorn nimmt an Schärfe zu. Weil sich diese Politpiraten, bitte schön, mal um die echten Probleme kümmern mögen, um die soziale Schieflage auf dieser Welt und in diesem Land. „20 Prozent sind in Leichtlohngruppen! Stattdessen geht es dieser Piratenpartei um Stilfragen!“ Nicht mit ihm.

Ein Oberpirat ist er trotzdem. Weil er die Hälfte seines 60-jährigen Lebens der Wirtschaftsgeschichte gewidmet hat. Und wer sich damit beschäftigt, der kommt um die Seeräuberei nicht herum. Das wusste schon Mephisto in Goethes „Faust“: „Krieg, Handel und Piraterie/Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.“ Also ist der Wirtschaftshistoriker Roder zwangsläufig auch ein Piratenhistoriker geworden, hat Bücher darüber geschrieben und am Überseemuseum in Bremen, wo er arbeitet, eine Piratenausstellung organisiert. Er hält Vorträge, geht auf Reisen mit seinem Expertentum. Oberpirat also, auch wenn er so gar nichts Piratenhaftes an sich hat mit seinem blauen Polo-Shirt, dem Sakko und den graumelierten Haaren. Hartmut Roder ist ein passiver Pirat.

Und als solcher eine Art Wissensautomat: Frage einwerfen, Antwort kommt prompt. Was sehr nützlich ist in diesen Zeiten, da das Wort „Piraten“ so gegenwärtig wie nie geworden ist. Aber auch, weil ein Rätsel zu lösen ist: Wie kann es nur sein, dass der Pirat, dieses Inbild des Verbrechers, als durch und durch positive Figur gilt? Wie ist dieser Mythos entstanden, wie konnte er eine Wirklichkeit entstellen, in der Tausende ein elendes Leben führten und am Galgen ihr Leben ließen? Wieso nennt sich eine Partei nach einer kriminellen Bande? Wieso kreieren Modelabels den „Pirate-Style“ mit dicken Gürteln und schwarzen Hemden? Wieso ist der Pirat die beliebteste Karnevalsmaskerade (zumindest für Jungen)? Wieso ist Pippi Langstrumpf stolz auf ihren Vater, den Seeräuber-Kapitän? Wieso erzielen Piratenfilme Rekordbesuche?

Hartmut Roder hat für diese Fragen ziemlich entschiedene Antworten. Und er beginnt nun in seinem Büro im Überseemuseum eine Geschichtsstunde, wie man sie sich in frühen Gymnasiumszeiten immer gewünscht hat. Weniger deshalb, weil er offenbar alle Geschichtszahlen auswendig kann, viel mehr noch, weil seine Erzählungen von einem solchen Furor getrieben sind, dass man glauben möchte, man steckte selbst mittendrin in der Geschichte.

Also nun schnell zu jenen Anfängen, in denen Geschichte erstmals geschrieben wurde. Herodot, der Grieche, oder Homer – egal, wohin es die Dichtung verschlug, der Pirat war schon da. Und selbstverständlich kommt das Wort auch aus dem Griechischen: „peiran“ heißt anpacken, angreifen. „Das zweitälteste Gewerbe der Welt“, sagt Hartmut Roder. Nicht ohne Grund: Die Unendlichkeit der sieben Meere, die schon in der Antike so hießen, als die Erde noch eine Scheibe war, die war schließlich – so paradox das auch scheinen mag – das heimlichste Versteck. Kein Landrecht eines Staates, unbekümmerte Wildnis. Kein Polizist, kein Richter und kein Henker. Und somit leichtes Spiel: herangerauscht mit schnellen Segeln, die Enterhaken ausgeworfen aufs schwer beladene, träge Handelsschiff, die Reling gestürmt, die Mannschaft niedergemacht und den Kapitän sowieso. Und dann hinunter in den Bauch des erbeuteten Schiffes, die Schätze zu heben, die da lagern.

Von wegen goldene Zeit

Piraten, Freibeuter, Bukanier, Filibuster, Korsaren, Kaperer, Seeräuber. Wie immer sich die wilden Gesellen nannten, ihre große Zeit sollte – nach einem mittelalterlichen Zwischenspiel mit dem sagenumwobenen Klaus Störtebeker, dessen Denkmal manche norddeutsche Stadt schmückt, den es aber vielleicht nie gegeben hat – erst noch kommen. Die begann, als die Schätze, die die Schiffsbäuche bargen, immer größer, immer wertvoller wurden, Ladungen mit Gold und Silber, mit Elfenbein und Gewürzen, mit Menschen auch, die in die Sklaverei verschleppt wurden. Es war im 16. Jahrhundert, als die europäischen Großmächte begannen, die neu entdeckte Welt auszuplündern: Spanier und Portugiesen, Engländer, Niederländer, Franzosen. Kein Schiff war auf den Handelsrouten sicher, nicht zwischen Europa und Amerika und im Indischen Ozean. Permanenter Seekrieg herrschte auf den Meeren.

Es war ein besonders schmutziger Krieg. Denn er wurde nicht nur von den Desperados der Seeräuberhaufen geführt, sondern in Wirklichkeit von den um den Reichtum der Neuen Welt konkurrierenden Staaten. Die freilich mussten sich gar nicht die Mühe machen, diesen Krieg zu erklären, hielten sich im Gegenteil an die auf dem Festland geschlossenen Friedensverträge und ließen die Piraten das hässliche Geschäft des Raubens betreiben. Stellten ihnen Kaperbriefe aus, staatliche abgesegnete Lizenzen zur maritimen Wilderei, die den Seeräubern einen halb legalen Kombattanten-Status gaben. „Der Staat“, sagt Hartmut Roder, „machte gemeinsame Sache mit Verbrechern.“ Mietete die Piraten als billige Kampfverbände wie Söldnerheere, Paramilitärs auf hoher See, die keineswegs anders agierten als die gemeinen Seeräuber. Weshalb der Kaperbrief auf Niederländisch den ehrlicheren Namen „Stelbrev“ trägt, die Erlaubnis zum Stehlen.

Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts währte jener Kriegszustand auf den Meeren, die „goldene Zeit“ der Piraterie, wie sie in den Geschichtsbüchern genannt wird und aus der auch die Piratenflagge stammt, der Totenkopf mit den gekreuzten Knochen oder Säbeln.

Goldene Zeit? Es war wohl eher die Zeit des Elends. Denn das Piratenleben, wie sehr es auch romantisch verklärt und entstellt wurde, ist zu allen Zeiten ein miserables Leben gewesen. Es war ja meist gar nicht die Verlockung des freien, ungebundenen Daseins, die so viele Menschen auf die Schiffsplanken der Kriminalität trieb, sondern die pure Not. Die meisten Piraten waren zuvor gewöhnliche Matrosen gewesen, hatten die Schinderei auf den regulären Schiffen erlebt: tyrannische Kapitäne, denen ein Menschenleben wenig galt, Hunger, Krankheiten, erbärmliche Löhne.

Diesem Jammer zu entfliehen, war das eigentliche Motiv der meisten, die die Fronten wechselten und ihr Glück auf den Piratenschiffen suchten. „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“, das sei der Antrieb gewesen, sagt Hartmut Roder und fügt gleich hinzu, dass das ein fataler Irrtum war: „50 Prozent der Piraten starben in den ersten fünf Jahren.“ Nicht nur auf See oder bei den mörderischen Kämpfen, oftmals wartete auf sie der Henker. Und die geteerten Leichname der Gehängten wurden oft wochenlang in den Häfen zur Schau gestellt. Zur Abschreckung. Zur gruseligen Volksbelustigung. Zwar war die hohe See eigentlich ein rechtsfreier Raum. Aber es gab eine Ausnahme: Lange bevor 1982 das Uno-Seerechtsabkommen beschlossen wurde, existierte das Gewohnheitsrecht, dass alle Staaten, die einen Piraten zu fassen bekamen, ihn vor ihre eigenen Gerichte stellen durften. Was heute für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt, das sogenannte Weltrechtsprinzip, galt zu allererst für die Piraterie.

Kein Wunder, dass dieses todgeweihte Leben von den meisten Piraten nur im Dauerrausch zu ertragen war. Der Alkoholkonsum muss bemerkenswert gewesen sein – ein Klischee, das vermutlich eines gewissen Wahrheitsgehalts nicht entbehrte und aus der berühmtesten aller Piratengeschichten bekannt wurde, aus Robert Louis Stevensons „Schatzinsel“: „Fuffzehn Mann auf des toten Manns Kiste/Ho ho ho und ’ne Buddel voll Rum!/Fuffzehn Mann schrieb der Teufel auf die Liste,/Schnaps und Teufel brachten alle um!“

So viel Not, so viel Verzweiflung. Aber gab es da nicht jenen berühmten Piratenkodex: freie Wahl und Abwahl des Kapitäns, gerechte Verteilung der geraubten Schätze, Invaliden- und Sozialkasse sogar? Demokratische Strukturen in vordemokratischen Zeiten? „Ja“, sagt Hartmut Roder, „eigentlich ist das ganz unpiratisch. Es gab gewisse Regeln.“ Und lässt sofort keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die für reichlich überschätzt hält. „Es ging nie um Freiheit. Die Seeräuberei war eine Zweckgemeinschaft zur Bereicherung.“ Und er bestreitet gleich auch jenen Mythos von der sozialen Verantwortung der Piraten, das oft gerühmte Motto „Wir sind die Robin Hoods der Meere“. Nein, sagt er, den Armen haben sie nie etwas abgegeben.

Die neuen Piraten sind die Banker

Mittlerweile hat sich Hartmut Roder warmgeredet, besitzt er doch die bei Menschen eher seltene Fähigkeit, beim Sprechen so gut wie nicht atmen zu müssen. Auch wenn er mit Sätzen, Fakten und Daten um sich schießt wie mit Kanonenkugeln. Dass er diese Sprachgewalt aber noch mühelos steigern kann, zeigt sich jetzt. Denn nun muss endlich die Frage des Anfangs beantwortet werden: Warum hat es die Mörderbande der Piraten zu so erstaunlicher gesellschaftlicher Akzeptanz gebracht? Was hat sie, was andere nicht haben? Ziemlich einfach, glaubt Hartmut Roder: „Der Mensch glaubt mehr an Hoffnung als an Realität.“

Und die Hoffnung wäre?

„Der Traum, ein anderer zu sein. Der Wunsch nach einer Metamorphose.“

Der Pirat, sagt er, ist eine Art Gegenwelt, eine auf den Kopf gestellte Welt. „In ihr symbolisieren sich unerfüllte Lebensoptionen.“ Schätze finden, plötzlich reich sein – ganz ohne Arbeit. Frei wie ein Vogel, losgelöst von aller Erdenschwere und keines Herren Diener. Die Bedrängnisse und die Langeweile des Alltags verlassen. Lebe wild und gefährlich!

So begann eine regelrechte Ästhetisierung des Piratentums, die alle Realitäten aus den Augen verlor. Die verbrecherische Wirklichkeit verschwand, übrig blieb die Chiffre einer diffusen Freiheit und die Verheißung einer großen Mächtigkeit. Und aus Tagträumen erstanden Helden, die das normale, banale Leben nicht zu bieten hat. So wie sich Brechts Seeräuber-Jenny aus der „Dreigroschenoper“ in Allmachtsträume fantasiert, die aus dem Stubenmädchen eine Piratenbraut werden lassen: „Und das Schiff mit acht Segeln/Und mit fünfzig Kanonen/Wird entschwinden mit mir.“

Hartmut Roders Wortkanonaden haben inzwischen alle Grenzen durchbrochen; denn nach so vielen historischen Exkursen muss jetzt noch dringend über die Gegenwart gesprochen werden. Weniger über die modernen Piraten, auf deren Konto – nicht nur vor Somalia und in der Straße von Malakka – noch immer jedes Jahr Hunderte von Überfällen gehen und die einen geschätzten Schaden von drei Milliarden Dollar anrichten. Sondern viel mehr über die Frage, warum der Piratenmythos gerade zu heutigen Zeiten so attraktiv geworden ist. Für Hartmut Roder ist der Fall klar. Die Uridee der Piraterie sei doch auch die Devise der Jetztzeit: Bereichere dich, ohne zu arbeiten. Überall, sagt er, werde heute nach diesem Imperativ verfahren, werde betrogen, wo es nur möglich scheint. So viel Piraterie wie heute habe es noch zu keiner Zeit gegeben.

„Alle faken sich hoch“, sagt er und vergisst nicht, Guttenberg zu erwähnen, „alle haben jede Hemmung verloren.“ Die Parallelen seien doch augenfällig: So wenig Regelwerk auf hoher See existierte, so wenig Regelwerk gibt es heute in Wirtschaft und Finanzen. Und nun erreicht Hartmut Roder sein finales Credo, das nämlich mit den Nadelstreifen: „Durch Deregulierung hat die Politik die wirtschaftliche Piratenflagge gehisst“, hat den Banken die ganz legale Seeräuberei auf dem Festland gestattet. Was sind die Glücksspieler an der Börse heute anderes als die Piraten auf den Meeren damals? Hartmut Roder sagt: „Mit Kaperbrief ausgestattete Verbrecher.“

Vom Kapern, Kentern und Beutemachen

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