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Poker: Das Glück des Süchtigen

Am Dienstag trifft sich in Berlin die Pokerelite. Es ist der Höhepunkt des Zockerbooms, und es geht um eine Million Euro. Auch Wanja Mitrow will unbedingt dabei sein.

Es ist Mittwoch, sechs Uhr früh und noch nicht wieder hell. Wanja Mitrow betritt eine Bar am Rosenthaler Platz. Der junge Russe trägt eine Daunenjacke, Jogginghose und Schirmmütze, alles in schwarz. Nur sein Laptop ist weiß. Die ganze Nacht hat Mitrow mit Freunden in einem Klub am Stadtrand gepokert. Jetzt setzt er sich auf die vordere Kante einer Couch, klappt den Computer auf und bestellt eine Cola. Als die Bedienung ihm das Glas hinstellt, reagiert er nicht. Mitrow spielt jetzt. An virtuellen Tischen werden ihm Karten zugeteilt. Erhöhen, mitgehen oder passen. Das sind seine Optionen. Nur seine Hand bewegt sich. Mechanisch schiebt sie die Maus über den Tisch. So geht das fast zwei Stunden. „Ein Spiel noch“, sagt Mitrow, mehr zu sich selbst. Ein Lächeln huscht durch seine weichen Gesichtszüge.

Erst eine Stunde später verlässt er die Bar. Es ist neun Uhr, die Nacht vorbei. Mitrow läuft nach Hause, seine Wohnung liegt nicht weit entfernt vom Rosenthaler Platz. Jetzt schlafen zu gehen, das findet er albern. „Vielleicht spiele ich noch ein bisschen.“

10 Stunden täglich vor dem Computer

Mitrow, hoch aufgeschossen und dünn, ist ausdauerndes Pokern im Internet gewöhnt. Es gab eine Zeit in seinem Leben, da hat er kaum etwas anderes getan. Allein vor dem Computer. 10 Stunden am Tag, mindestens. 300 Stunden im Monat. Ein Jahr lang. Er weiß das genau: vom Dezember 2007 bis Oktober 2008. Über 100 000 Dollar hat Mitrow, der sich diesen Namen aus Angst vor Steuerfahndern gibt, in dieser Zeit gewonnen. Seinen Stundenlohn hat er nie ausgerechnet.

Mittlerweile spielt Mitrow seltener im Internet und häufiger auf die altmodische Art: Mit echten Karten und Plastikchips, an einem Filztisch, das Blatt wird ihm von einem Croupier oder Dealer zugeteilt. Jeden Abend zieht es ihn in die Spielbank Berlin am Potsdamer Platz. Er will sich qualifizieren, unbedingt, für das größte Pokerturnier, das jemals auf deutschem Boden stattgefunden hat. 1000 Spieler werden erwartet. Ab Dienstag kämpfen sie im Nobelhotel Hyatt um den Hauptgewinn von einer Million Euro. Die Spielbank durfte als Ausrichter für diesen Zweck ihre staatliche Konzession ausdehnen. Es ist der vorläufige Höhepunkt des Pokerbooms, der Prominente wie Boris Becker oder Stefan Raab in Fernsehrunden zocken lässt und immer weitere Kreise zieht. Mitrow wird bis zur letzten Sekunde versuchen, einen Startplatz zu ergattern.

Mitrows Vater starb an Lungenkrebs

Dass jemand beim Spielen Profit macht, hört Lena Zielke selten. „Wer hier herkommt, der hat meistens Schulden“, sagt die zierliche Frau mit hoher Stimme. Sie arbeitet im Café Beispiellos in Kreuzberg, der Berliner Beratungsstelle für Glücksspielsüchtige. Die Sozialpädagogin und ihre sieben Kollegen haben im vergangenen Jahr mehr als 700 Betroffene beraten, es soll in Deutschland etwa 600 000 Süchtige geben. In einer Anfang Februar veröffentlichten Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung heißt es, dass 1,1 Prozent der Deutschen „ein problematisches oder sogar pathologisches Spielverhalten“ aufweisen. Merkmale der Spielsucht sind Kontrollverlust, Wiederholungszwang, Leidensdruck.

rbb-Abendschau: Die schwarze Mamba im Pokern

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Hat Wanja Mitrow die Kontrolle verloren? „Möchten Sie meine ganze Geschichte hören?“, fragt er in gebrochenem Deutsch. Es ist ein Sonntagnachmittag im Februar, draußen herrscht nasse Kälte. Das Café in Berlin-Mitte, in dem man ihn treffen kann, ist voll, der Nachbartisch nur eine Handbreit entfernt. Mitrow trägt wieder seine schwarze Jogginghose und die Schirmmütze. 2002 war er mit seiner Familie aus Jekaterinburg nach Deutschland gezogen. Sein Vater, ein Biophysiker, hatte in Berlin-Buch eine Stelle als Forscher angenommen.

Vier Jahre später wechselte er an die Johannes-Kepler- Universität in Linz, Wanja blieb mit seiner Mutter zurück. Die beiden bezogen eine Wohnung in Mitte. Die Großstadt, viele russische Freunde – Wanja Mitrow fühlte sich wohl. Dann, im September 2007, ein Anruf aus Linz: Der Vater war tot. Lungenkrebs. Die Ärzte hatten die Schwere der Krankheit bis zuletzt nicht erkannt. Die Mitrows konnten sich nicht einmal voneinander verabschieden.

Es gab  nur noch zwei Zustände: Schlafen oder spielen

Schon vor dem Tod seines Vaters hatte Wanja Mitrow im Internet gepokert und ein bisschen Geld gewonnen, doch jetzt spielte sich der 19-Jährige in Trance. Es gab nur noch zwei Zustände: Schlafen oder spielen. „Ich bin morgens aufgewacht und habe die Welt gehasst, bis ich am Computer saß.“ Beim Spielen konnte er vergessen, verdrängen. Nachts im Bett kamen die negativen Gefühle wieder hoch, „bis ich endlich eingeschlafen bin“. Für Mitrow war das Pokern Therapie und Droge zugleich.

An sein Studium der Wirtschaftsinformatik in Potsdam mochte Wanja Mitrow damals nicht mehr denken. In der Trauer stapelten sich die Probleme. Ein Anwalt versprach den Mitrows eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung plus üppiger Rente. Heraus kamen 400 Euro monatlich und ein Visum nur für Wanja. Der Anwalt stellte trotzdem 15 000 Euro in Rechnung.

Die ehemaligen Kollegen des Vaters boten Hilfe an. Sie würden Wanja finanziell unterstützen, unter einer Bedingung: Er müsse das Studium wiederaufnehmen und in ein Studentenwohnheim ziehen. „Ich aber wollte unabhängig bleiben“, sagt Mitrow. Also spielte er weiter.

Leistungsdruck beschreibt Mitrow als den schlimmsten Feind. Manchmal gewann er 2000 Dollar in ein paar Stunden. Und dann gab es Phasen, in denen er 1400 Dollar verlor und alles zu zerbrechen drohte. Die Miete, die Kosten für den Anwalt, seine Existenz in Berlin – alles hing an den Karten. Mitrow war allein, am Telefon versuchte die Mutter von Russland aus, ihren Sohn zumindest zu längeren Pausen zu überreden, wenn es mal nicht so lief. „Ich habe sie angeschrien“, sagt Mitrow und steht auf. Er geht kurz vor die Tür, um zu rauchen. Als er wiederkommt, sagt er: „Meine Mutter hatte natürlich recht. Eine Pause in verlustreichen Phasen hätte mich noch erfolgreicher gemacht. Mit negativen Emotionen trifft man schlechte Entscheidungen.“

Beim Pokern sind Mathematik und Psychologie wichtig

Das Bild vom Pokern in der Öffentlichkeit wurde lange von Hollywoodfilmen wie „Der Clou“, „Cincinnati Kid“ oder – aus jüngerer Zeit – „Casino Royal“ geprägt. Dabei haben sie kaum etwas mit der Wirklichkeit gemein. Poker ist ein Geschicklichkeitsspiel, bei dem Psychologie und Mathematik von großer Bedeutung sind. Natürlich hat auch Glück einen Anteil. Wie hoch dieser ist, lässt sich nur schwer ermitteln. Der englische Schriftsteller Anthony Holden beschreibt es in seinem Buch „Poker“ so: Professionelle Spieler würden ihr Geld dann einsetzen, wenn sie einen positiven Erwartungswert hätten, die Wahrscheinlichkeit also auf ihrer Seite sei. Einen oder zwei Abende lang könne jeder Anfänger einen Profi schlagen, auf lange Sicht aber würde sich der bessere Spieler durchsetzen, schreibt Holden.

Die Regeln der modernen Pokervariante „Texas Hold’em“ sind in zehn Minuten erklärt. Aber allein das Überfliegen einer Literaturliste aller Bücher zum Thema Pokerstrategien würde länger dauern. Selbst erfahrene Profis können stundenlang über die korrekte Größe einer Erhöhung des Geldeinsatzes diskutieren.

„Allein die Art, wie jemand seine Spielchips in die Mitte schiebt, kann etwas verraten“, sagt Daniel Negreanu, einer der erfolgreichsten Spieler überhaupt, über den Faktor Psychologie. Wie die meisten seiner Berufskollegen spielt der Kanadier online und live. In Deutschland befindet sich Internetpoker in einer rechtlichen Grauzone. Im Strafrecht wird das Betreiben von Glücksspiel nur mit einer Konzession gestattet, ob Poker ein solches ist, darüber gibt es immer wieder gerichtliche Auseinandersetzungen. Die Betreiber der Pokerportale sitzen allerdings im Ausland und sind deshalb nur schwer zu belangen.

Die Sozialpädagogin glaubt kaum an Gewinner

Die Spieler jedenfalls lassen sich von den juristischen Unklarheiten nicht stören. In Deutschland sollen konservativen Schätzungen zufolge mehr als eine halbe Million Menschen im Internet spielen. Wenn Arbeit sich nicht mehr lohnt, dann suchen die Menschen nach etwas anderem. „Pokerspieler sind eben die letzten wirklich freien Menschen“, sagt Profi Negreanu. Aber kaum einer schafft es so weit wie er. Viele Verlierer finanzieren die wenigen Gewinner. Ob Wanja Mitrow ein Gewinner ist, das weiß er selbst nicht so genau.

Mitrow fürchte sich vor dem, was erfahrene Spieler „Suckout“ nennen. Also Situationen, in denen er von der Wahrscheinlichkeit her in Führung liegt und trotzdem sein Geld verliert. Was, wenn er nur noch Pech haben würde? Und kann es einen auf Dauer erfüllen, sein Geld mit Kartenspielen zu machen? Mitrow zuckt mit den Schultern.

Die Sozialpädagogin Lena Zielke glaubt kaum an Gewinner. Wie viele Pokerspieler sie schon beraten hätte im Café Beispiellos? Sie macht eine kurze Pause. „Ich müsste schätzen“, sagt sie. Von den 700 Hilfesuchenden im letzten Jahr kämen „rund 80 Prozent“ von Daddelautomaten nicht mehr los, die auf Fachdeutsch Geldspielgeräte heißen. Einige Pokersüchtige hätten sich aber auch schon bei ihr vorgestellt. Oft mit hohen Schulden. Wie viele es in Deutschland insgesamt gebe, sei schwer zu sagen. „Aber Poker ist eben auch ein Glücksspiel“, sagt Zielke.

Mitrow reißt die Augenbrauen hoch. Glücksspiel? Das sieht er anders. „Je mehr man spielt, desto besser wird man doch“, sagt er. Mit schwarzer Jogginghose und Schirmmütze, wie immer, steht er im Untergeschoss der Spielbank am Potsdamer Platz und raucht. Von oben, aus dem Erdgeschoss, kann man das Klickern der Spielchips hören. Dort wird an 14 Tischen parallel gezockt. Der Andrang ist groß. Wie Mitrow wollen sich viele für die European Poker Tour im Hyatt qualifizieren, um die Startgebühr von 5300 Euro nicht aufbringen zu müssen.

Mitrow investiert jetzt in andere Projekte

Das ist selbst Wanja Mitrow zu viel Geld. Also geht er wieder nach oben, als sein Name über den Lautsprecher aufgerufen wird. „An Tisch 3, bitte!“ Er schiebt sich durch die eng stehenden Stühle zu seinem Platz vor. Für die nächsten eineinhalb Stunden wird das seine letzte körperliche Regung sein, abgesehen von gelegentlichen Kunststückchen mit den Plastikchips. Nur manchmal wirft er ein paar Spielmarken, die sein Guthaben darstellen, in die Mitte. „Raise!“, heißt es dann. Am Ende des Vorturniers scheidet er unglücklich aus. Ein Suckout. „Im Live-Spiel bin ich noch ziemlich unerfahren“, sagt er.

Vielleicht liegt Wanja Mitrows Zukunft in dem Internetauktionshandel, den er mit einem Freund betreibt. Um vom Computer loszukommen, zumindest zeitweilig, hat er einen Klub am Stadtrand gemietet. In dem verrauchten Keller spielt er mit Bekannten um kleine Beträge. Er hat jetzt nicht mehr so viel Zeit für Onlinepoker, die Gewinne fallen entsprechend niedriger aus. „Manchmal vermisse ich die Zeit, in der ich 8000 Dollar im Monat verdienen konnte“, sagt er. Aber dann erinnert er sich wieder an diesen „höllischen Druck“. Mitrow nimmt einen tiefen Zug von der Zigarette. „Eigentlich hasse ich Poker.“

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