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Präsidenten-Beerdigung: Die polnische Trauer

Vor einer Woche starb Präsident Lech Kaczynski. Seitdem macht die Flaggenverkäuferin Rekordumsätze. Säubert die Pfadfinderin Stufen vom Kerzenwachs. Nimmt ein Volk Abschied und streitet sich. Am Sonntag ist die Beerdigung.

Im ganzen Land waren sie zu hören, am Sonnabend um 8 Uhr 56: Alarmsirenen und Kirchenglocken, zwei Minuten lang, und die Menschen hielten inne. Und später, um zwölf Uhr, in Warschau auf dem Pilsudski-Platz sprach vor Zehntausenden, die sich zur Trauerfeier versammelt hatten, der Parlamentschef von Katastrophe und Ereignissen, die zusammenrücken ließen, und er sagte, das Land sei still und nachdenklich gewesen in den vergangenen Tagen.

Die vergangenen Tage: sieben an der Zahl. Denn die Woche, an deren Ende wegen eines isländischen Vulkans Europas Flugverkehr lahmlag, hatte in Polen damit begonnen, dass ein Flugzeug, besetzt mit dem Staatspräsidenten Lech Kaczynski, mit Regierungsmitgliedern, Heeresverantwortlichen, Intellektuellen, im Anflug aufs russische Smolensk im Nebel abstürzte. Alle tot.

Es ist der Sonnabend vor einer Woche gewesen, der Tag, an dem Krystyna Rzecka zum Frühstück ausnahmsweise grünen Tee trinkt. Um 9.10 Uhr setzt sie sich vor den Fernseher und hört den Moderator, der den baldigen Beginn der Feierlichkeiten in Katyn ankündigt. Dorthin wollten Kaczynski und seine Begleiter. Das Andenken an die 1940 ermordeten Offiziere sollte live übertragen werden. Auf einmal unterbricht der Moderator. Es habe Probleme bei der Ankunft des Flugzeugs gegeben. „Ah ja, eine harte Landung“, denkt Krystyna und lächelt sogar kurz, als sie sich vorstellt, wie Kaczynski dieses Erlebnis bei den Russen wohl erwähnen wird, sie hat deswegen noch eine Woche später ein schlechtes Gewissen. Dann heißt es: Das Flugzeug habe großen Schaden erlitten. Von Todesopfern ist die Rede. Von einer Katastrophe.

Doch erst, als ein Fernsehgast mit Tränen in den Augen das Studio verlässt, einfach so, er steht mitten im Gespräch auf und geht, begreift Krystyna Rzecka, dass etwas Furchtbares passiert ist.

In den nächsten Stunden werden Tränen auf dem Bildschirm zum allgegenwärtigen Anblick.

„Alle 96 Fluggäste sind bei dem Unfall ums Leben gekommen“, bestätigt am Nachmittag das Außenministerium. Die Leiche des Präsidenten wird gefunden.

„Wie soll der Staat jetzt noch funktionieren?“, fragt am Tag danach Roza Rozmus, eine 17-jährige Pfadfinderin. Sie hat Dienst vor dem Präsidentenpalast, an dem sich die Menschen sammeln. Blumen ablegen, Kerzen anzünden, stehen und beten, plötzlich ist die ganze Straße blockiert. So viele Menschen sind es. Das Paraffin aus den umgekippten Grablichtern fließt auf den Bürgersteig, bedeckt ihn mit einer rutschigen Schicht. Rund um den Palast werden Absperrgitter aufgebaut. Tag und Nacht stehen dort jetzt mehrere Dutzend Pfadfinder und entsorgen ausgebrannte Grablichter. Dicke Handschuhe tragen sie, trotzdem verbrennt sich immer wieder jemand die Hand. Roza wohnt in einem Schulinternat und hat niemanden, der ihr erklären kann, wie es weitergeht, wenn so viele Staatsämter verwaist sind.

Es starben mit dem Präsidentenehepaar Maria und Lech Kaczynski: der Zentralbankpräsident, der Chef des Nationalsicherheitsbüros, drei Vizeminister, der Ombudsmann, der Chef des Generalstabs und die ganze Armeeführung sowie fast die ganze Belegschaft der Präsidentenkanzlei, Sejm- und Senatsmarschälle, 19 Parlamentsmitglieder, hohe Beamte und Kirchenvertreter.

„Die Eliten sind gestorben“, wiederholen Medien und Politiker immer wieder. Es ist nicht mehr die Rede von einer Katastrophe, sondern vom „zweiten Katyn“. Von einem tragischen und übernatürlichen Zeichen. Einem verfluchten Ort.

Am Sonntag wird die Leiche des Präsidenten zum Palast gebracht. Es ist die erste Leiche, die in Polen eintrifft. Hunderttausende Menschen säumen die Straßen. Und Politiker aller Parteien erinnern sich einstimmig an den Präsidenten Kaczynski als einen Politiker von Format, wahren Patrioten und einen guten Menschen. „Der beste Präsident war er“, regt sich eine alte Dame im Warschauer Bus auf. Mitreisende nicken oder schweigen. Die Amtsführung Kaczynskis zu diskutieren, wäre ungehörig gewesen. Über Tote hat man nicht schlecht zu reden.

Die Aufgaben der Verstorbenen übernehmen schnell deren Stellvertreter. Die Zeitungen nennen die Namen nachrückender Parlamentsmitglieder. „Wer sind die?“, fragen sich die Leute. Auch der Beamte aus der Präsidentenkanzlei, der über die aktuelle Situation informieren soll, wird von Journalisten kaum bemerkt. Sie kennen weder sein Gesicht noch sein Namen. Er ist der Stellvertreter des Stellvertreters. Alle Vorgesetzten waren am Bord.

Vor dem kleinen Laden von Liliana Niewiadomska ist Montag früh die Schlange wie schon am Sonnabend sehr lang. Nur zwei Geschäfte in der Hauptstadt verkaufen Flaggen, und alle wollen eine. Liliana Niewiadomska entscheidet: Es gibt höchstens fünf Stück pro Person. Damit keiner mit ihren Flaggen sein eigenes Geschäft macht. Ein solches Interesse erlebte sie bisher nur zwei Mal: beim ersten Besuch von Johannes Paul II. und bei seinem Tod. Sie bekommt einen Anruf. 200 große Flaggen werden bestellt. Für die Särge. Sie dreht ihre mit Tränen gefüllten Augen weg.

Erst um Mitternacht, als alle Flaggen verkauft sind, macht sie ihren Laden zu.

In vielen Städten sammeln sich Menschen auf Märkten, vor Rathäusern, Kirchen und nationalen Denkmälern. Sie stehen vor dem Privathaus von Maria und Lech Kaczynski und vor den Büros der toten Parlamentsmitglieder. „Heute sind wir keine Linken oder Rechten. Heute sind wir alle Polen und trauern gemeinsam“, sagt Bronislaw Komorowski, der Parlamentschef, der seit dem Absturz Staatsoberhaupt ist.

Im russischen Fernsehen läuft am Montag der Film „Katyn“. Jahrelang hatten polnische Politiker und Kulturmacher dafür geworben, erfolglos. Und nun diese Geste. Es tut sich Unvorstellbares zwischen Russland und Polen. Die Verkäuferin am Kiosk fragt ihre Kunden, ob sie gesehen hätten, wie viele Blumen in Moskau vor der polnischen Botschaft liegen.

Und vor dem Präsidentenpalast in Warschau wird Pfadfinderin Roza von Touristen gefragt, ob sie nicht ein Foto machen könnte. „Ein Bild, auf dem man lächelt und auf dem Grablichter im Hintergrund leuchten, na, haben die Menschen denn überhaupt kein Gefühl?!“

Als am Dienstag die Leiche von Maria Kaczynska zum Präsidentenpalast gebracht wird, stehen noch mehr Menschen an den Straßen. Sie haben Tulpen dabei. Das seien ihre Lieblingsblumen gewesen, kreist ein Gerücht im Gedränge. Ein holländischer Züchter nannte sogar eine Tulpenart nach ihr. Die Tulpen werden auf den schwarzen Wagen mit dem Sarg geworfen, während er fährt. Er fährt schnell, die meisten Blumen fliegen vorbei. Trotzdem ist die Karosserie bereits mit einer dicken Tulpenschicht bedeckt. Auch auf der Frontscheibe liegen Blumen, so dass der Fahrer kaum etwas sieht. Er könnte sie mit den Scheibenwischern wegwischen. Er tut es aber nicht.

Das Fernsehen überträgt, wie Marta, die Tochter des Präsidentenpaares, die Särge umarmt, wie kleine Jungen sich an den Särgen ihrer Väter die Augen reiben. Die Pfadfinderin Roza stellt sich ihre Eltern vor, Liliana Niewiadomska und Krystyna Rzecka dagegen ihre Kinder. Spätestens da fließen Tränen.

Täglich landen Särge. Mal 30, mal 34. Eine ganze Reihe von ihnen, bedeckt mit Flaggen. „Unfassbar. Alle weinen“, sagt ein amerikanischer Journalist vor der Kamera. „Die Polen sind vereint.“

Das ändert sich dann Dienstagabend, als bekannt wird, dass der Präsident und seine Frau in Krakau ruhen sollen, im Dom der Wawel-Burg, bei den Königen. In einem honigfarbenen Sarkophag.

In der Nacht auf Mittwoch sind es noch 500, am Mittwochabend demonstrieren bereits über 1000 Menschen vor der Krakauer Kurie, ebenso am Donnerstag. In Warschau sammeln sich 200, in anderen Städten weitere dutzende Menschen. Die Rufe werden immer lauter. So ein guter Präsident sei er doch nicht gewesen. Worte, die kurzzeitig vom Anstand verboten waren, purzeln nun überall hervor. Von Herzlichkeit keine Spur mehr.

Die Entscheidung habe die Familie Kaczynski getroffen, heißt es offiziell. „Sollen wir etwa glauben, dass Marta ihre Eltern 800 Kilometer von sich begraben haben möchte?“, fragt eine Frau.

Die Proteste gehen bis Freitagabend. Für das Wochenende kündigen beide Seiten Frieden an. „Aus Respekt für die Verstorbenen.“ Der Traum von einer nationalen Einigkeit ist zerplatzt.

Den Freitag über schaut Roza Rozmus immer wieder in den blauen Himmel über Warschau. Eine Aschewolke hängt nun hoch oben und gänzlich unsichtbar auch über Polen. Und in den Ärger über geschlossene Flughäfen und die Trauer um die Toten von Katyn mischen sich die ersten Witze. Wie das eine und das andere doch zusammenhängt. Die Medien interviewen abwechselnd Meteorologen und Politiker. „Ist die Wolke bis Sonntag weg? Und was passiert, falls nicht?“

Die Vorbereitungen in Krakau laufen auf Hochtouren. Schon fehlen Zimmer für Journalisten und Besucher. Mehr als 80 Delegationen aus der ganzen Welt sollten zum Staatsbegräbnis kommen; der russische Präsident Dmitri Medwedew, Angela Merkel, Horst Köhler, Barack Obama. Nicolas Sarkozy, das spanische königliche Paar, José Manuel Barroso, der Vorsitzende der Europäischen Kommission, Anders Fogh Rasmussen, der Nato- Generalsekretär, die Präsidenten von Georgien, Litauen, Estland, Bulgarien und und und. Am Samstagmittag werden die ersten Absagen bekannt, und es werden immer mehr. Lange heißt es, der US- Präsident komme auf jeden Fall. Am späten Abend sagt auch er ab. In Polen machen sich die ersten Pilger auf den Weg. Vor der Wolke haben sie keine Angst.

Agnieskza Hreczuk

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