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Prozess in Hamburg: Affekt oder "Ehrenmord"?

EIne Gutachterin hält den Mann, der seine 16-Jährige Schwester mitten auf der Straße erstochen haben soll, für nicht schuldfähig. Die Anklage spricht weiter von heimtückischen und niederen Beweggründen.

Die Anklage sieht in ihm einen Mörder, die Verteidigung geht von Totschlag und einer verminderten Schuldfähigkeit ihres Mandanten aus: Der 24-jährige Ahmad-Sobair O. muss sich seit dem 16. Dezember vor der 21. Strafkammer des Hamburger Landgerichts für 23 Messerstiche verantworten, mit denen er im Mai 2008 auf seine 16-jährige Schwester Morsal in Hamburg mitten auf der Straße einstach und sie damit tötete. Unmittelbar nach der Tat war bundesweit von einem sogenannten Ehrenmord die Rede.

Denn das deutsch-afghanische Mädchen beanspruchte in seiner Lebensführung Freiräume, die in der Familie auf Widerstand stießen. Vertreter der Sozialbehörde führten eine Familienakte, weil Morsal geschlagen und misshandelt wurde. Ihr älterer Bruder war nach mehreren Straftaten bei der Polizei und Staatsanwaltschaft aktenkundig. Nach der Bluttat kam daher der Vorwurf auf, die Behörden hätten das Mädchen besser vor ihren gewalttätigen Familienmitgliedern schützen müssen, und Ahmad-Sobair hätte in Anbetracht seines Vorstrafenregisters sowie der Körperverletzungen und Drohungen gegenüber seiner Schwester längst hinter Gitter gehört.

Inzwischen sind acht Verhandlungstage vergangen. Ein von der Staatsanwaltschaft bestellter Gutachter, der dem Angeklagten volle Schuldfähigkeit attestierte, ist auf einen Befangenheitsantrag der Verteidigung hin vom Gericht abgelehnt worden. Eine seitens des Gerichts bestellte Gutachterin, die bei dem Täter nach sechs zweistündigen Gesprächen eine narzisstische Persönlichkeitsstörung feststellte und in der Tat eine psychisch bedingte Affekthandlung sieht, wird wiederum von der Anklagebehörde abgelehnt. Über einen entsprechenden Antrag wurde noch nicht entschieden. Würde das Gericht hier der Staatsanwaltschaft folgen, wäre der Prozess geplatzt.

Die Gutachterin betonte am Dienstag, dass kulturelle Wertvorstellungen bei der Tat höchstens eine indirekte Rolle gespielt hätten. Im Gegensatz dazu spricht die Anklageschrift davon, dass der 24-Jährige „heimtückisch und aus niederen Beweggründen“ getötet haben soll. Ahmad-Sobair Obeidi selbst hatte nach seiner Festnahme in der polizeilichen Vernehmung die Tat gestanden. Vor Gericht hat er sich bisher nicht zur Sache eingelassen. Im Gerichtssaal wurden an einem früheren Verhandlungstag Telefonate zwischen dem Angeklagten und seinen Eltern nach der Tat vorgespielt, die auf richterliche Anordnung abgehört wurden. Die Eltern sagten darin „Wir sind ruiniert, vernichtet“, worauf Ahmad-Sobair antwortete. „Besser ruiniert als Ehrlosigkeit.“

Dieter Hanisch

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