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Abschied in Bunt. Die Mitschüler der beiden ermorderten Mädchen haben deren Kindersärge bemalt. Am 1. April 2011 war die Beerdigung.

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Prozess um Kraillinger Doppelmord: Wo das Böse wohnt

Zwei Kinder werden brutal getötet. Angeklagt wird ihr Onkel, er soll aus Habgier gemordet haben. Vor dem Münchner Landgericht schweigt er bis zum Schluss. Dann erklärt er sich für unschuldig. Ein Prozess um ein unfassbares Verbrechen.

Erst am frühen Morgen gegen vier Uhr 30 Uhr kommen Anette S. und ihr Freund Klaus P. nach Hause. Sie hätten sich in dieser Nacht im „Schabernack“ verratscht, erzählen sie später den Polizisten. Und dass sie sicher waren, dass Sharon und Chiara, die Töchter von Anette S., tief schlafen.

Das „Schabernack“ ist eine Musikkneipe, die der 52-jährige Klaus P. in Krailling betreibt, einer Gemeinde bei München. Anette S., 41, kellnert dort regelmäßig jeden Mittwoch, so auch am Abend des 23. März 2011.

Ihre zwei Töchter sind in diesen Nächten allein in der Wohnung. Aber die ist nur drei Häuser von der Kneipe entfernt in der Margaretenstraße. Die Mutter hatte Sharon, elf Jahre alt, und Chiara, acht Jahre alt, zu Bett gebracht, bevor sie ins „Schabernack“ ging. Sharon und Chiara wissen, wo die Mutter ist, und sie wissen auch, dass die Türen von Haus und Wohnung offen sind. Wenn etwas passieren sollte, wenn es brennt, wenn sie Hilfe brauchen, dann können sie raus und zur Kneipe laufen. Viele der Stammgäste kennen die Mädchen, die im Sommer oft Nachmittage lang im Biergarten gewesen sind.

Klaus P. geht zum Kühlschrank, er will sich noch ein Wurstbrot machen. Da fällt Anette S. eine Kurzhantel auf, die nicht zum Haushalt gehört. Am Spülbecken in der Küche liegen frisch gespülte Messer. Die Mutter schaut nach den Töchtern. Sie schreit.

Vor Gericht erzählt Klaus P., wie seine Finger zitterten und er Mühe hatte, die Ziffern auf der Telefontastatur zu finden, um den Notarzt anzurufen. 110, 112, 117? Er war so durcheinander, dass er die Nummer nicht mehr wusste.

Der Doppelmord an den Mädchen entsetzt die Gemeinde Krailling mit ihren 7500 Einwohnern. Waren die Mädchen Zufallsopfer? Wird es weitere Morde geben? Die Rektorin der Grundschule, auf die Chiara gegangen ist, bittet alle Eltern, ihre Kinder nicht mehr alleine in die Schule gehen zu lassen. Auf dem Gehweg vor dem Haus in der Margaretenstraße legen die Menschen Kuscheltiere und Blumen ab, Kerzen werden angezündet. Für die Beerdigung haben Mitschüler die beiden Kindersärge bunt angemalt.

Die Kraillinger fragen sich auch: Wer wusste, dass die Türen nicht verschlossen waren? War der Mörder einer von uns? Ein Gast des „Schabernack“ soll in der Mordnacht für eine Stunde verschwunden gewesen sein. War er der Täter? Und was ist mit dem leiblichen Vater der Mädchen? Der soll in Hamburg leben und Probleme mit Drogen gehabt haben. Konnte er die Trennung nicht überwinden und wollte sich rächen? Wer war wo in jener Nacht in Krailling? Alles war auf einmal möglich.

In denselben Tagen des vergangenen Frühjahrs erledigt der Postbote Thomas S. (51) seine Arbeit wie gewohnt. Mit dem Rad trägt er am Starnberger See Briefe aus. Frühmorgens fängt er an, am späten Vormittag ist er schon fertig und hat frei. Dann spielt er entweder am Computer oder er kümmert sich um seine Familie. Um seine Frau Ursula (44), die an Brustkrebs erkrankt war und eine erfolgreiche Behandlung hinter sich hat. Und um die vier Kinder – drei Jungen und ein Mädchen zwischen sechs und 14 Jahren. Im oberbayerischen Peißenberg, 60 Kilometer von München entfernt, hat die Familie von Thomas S. ein Haus gebaut. Er sei, so sagen Nachbarn als Zeugen später, herrisch gewesen und faul.

Thomas S. ist der Schwager von Anette S. und Onkel von Sharon und Chiara. Seine Frau Ursula ist Anettes ältere Schwester.

Wie die ganze Verwandtschaft geben auch Ursula und Thomas S. bei der Polizei eine Speichelprobe ab, die den genetischen Fingerabdruck aller Verwandten ermitteln will. Denn in der Tatwohnung sind Spuren gefunden worden. Thomas S. macht die Speichelprobe bereitwillig mit. Neun Tage nach dem Mord, am Tag der Beerdigung, nimmt die Polizei Thomas S. fest. Der Onkel habe in der Wohnung jede Menge „täterrelevante DNS“ hinterlassen, wie der Kriminalist Markus Kraus berichtet.

Der Angeklagte erklärt sich für unschuldig

Die Mitschüler der
Die Mitschüler der

© dpa

Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage, sie geht von Mord aus Habgier aus. Die Familie von Thomas S. sei hoch verschuldet gewesen, ihr neu gebautes Haus stand vor der Zwangsversteigerung.

Thomas S. habe nicht nur die Mädchen, sondern auch deren Mutter Anette ermorden wollen – dann hätte, so seine Vorstellung, seine Frau Ursula unter anderem eine umstrittene Eigentumswohnung geerbt, die den beiden Schwestern gemeinsam gehörte. 40 000 bis 50 000 Euro wäre der Anteil gewesen.

Nach der Ermordung der Kinder, so wirft der Staatsanwalt Florian Gliwitzky dem Onkel zu Prozessbeginn Mitte Januar vor dem Landgericht München vor, habe er die Badewanne in der Wohnung mit Wasser gefüllt, das Stromkabel des Deckenlichts herausgerissen und ein Handmixgerät neben die Wanne gestellt. Anette S. sollte im Dunkeln in die Wanne gestoßen und der Mixer hinterhergeworfen werden. Die Mutter aber kam in dieser Nacht erst weit später, als von Thomas S. erwartet, deshalb, so sagte es der Staatsanwalt, „verließ er schließlich die Wohnung, da er befürchten musste, dass er in den frühen Morgenstunden nicht unbemerkt bleiben würde“.

Seine Frau Ursula soll von alldem nichts gewusst haben, belegen die Ermittlungsergebnisse. Zuerst gab sie ihrem Mann ein Alibi für die Nacht, das sie dann widerrief. S. sei am frühen Morgen nicht da gewesen. Er habe sie von unterwegs angerufen und gesagt, er habe wegen Zahnschmerzen nicht mehr schlafen können und sei früher zur Arbeit aufgebrochen. Sie reicht den Antrag auf eine Blitzscheidung ein, er widerspricht per Anwalt aus dem Gefängnis heraus.

Beim Prozessauftakt im größten Verhandlungssaal A 101 des Münchner Justizkomplexes an der Nymphenburger Straße wird ein Mann vorgeführt in Jeans und grauem Polohemd, den Vollbart hat er abrasiert, das graue Haar ist kurz geschnitten. Mit herausforderndem Blick lässt er sich fotografieren. Er versucht, mit den Wachmännern zu scherzen und lacht. Er sagt etwas zu seinem Anwalt Adam Ahmed und grinst dabei.

Vor Gericht schweigt er lange. Bis zum vergangenen Montag, an dem bereits mit den Plädoyers gerechnet wurde. Da überlegte er es sich anders, so dass am gestrigen Dienstag die Richter, Anwälte und Zuschauer zu hören bekamen, wie Thomas S. sich für unschuldig erklärte. Die Aussagen der Zeugen widersprächen sich zum Teil und seien auch teilweise falsch, sagte der Angeklagte, auch hätten die Ermittler nicht genug Fotos vom Tatort gemacht. Die Anklage weise dementsprechend „gravierende Fehler“ auf, außerdem sei es einem einzelnen Mann gar nicht möglich, zwei Mädchen auf einmal zu kontrollieren. Er habe, sagte Thomas S., in seinem Leben nie jemandem ernsthaft etwas zuleide getan.

Die Einlassungen wurden im Gerichtssaal mit Gemurmel aufgenommen. Familienangehörige, die den Prozess verfolgten, hatten Tränen in den Augen. Die Staatsanwaltschaft sprach Thomas S. die Glaubwürdigkeit ab. Sie sieht keinen Grund, an der Mordanklage zu zweifeln.

Thomas S., ein Mann ohne jegliches Gefühl. Dieser Eindruck verhärtete sich während seiner Aussage eher noch, als dass er sich aufgeweicht hätte. Schon bei der Anklageverlesung hatte er sich immer wieder über den Tisch gelümmelt oder mit den Fingern rhythmisch auf die Platte geklopft. Als sei es ihm in erster Linie lästig, anwesend sein zu müssen.

Die beiden Mädchen wehrten sich bis zum Schluss

Eine Ermittlerin hatte Fotos aus der Kraillinger Wohnung gezeigt. Die waren direkt nach der Tat aufgenommen worden, lediglich die Leichname der Mädchen waren beseitigt. Am häufigsten verwendete die Ermittlerin bei der Schilderung der Räume das Wort Blut. Überall waren Blutspuren zu finden: am Türrahmen, auf dem Bettlaken, am Holztisch und im Besteckkasten. Auch Thomas S. drehte sich interessiert um und schaute sich die Bilder an. Weiter sprach die Polizistin von noch feuchten Textilien und „Auswaschungen“ – der Täter hatte versucht, den Stoff zu reinigen, die Spuren wegzuwischen. An einer Wand der Wohnung sieht man den roten Abdruck von einer kleinen Hand. So etwas machen Kinder häufig mit Farbe auf Papier. Doch diese Hand ist aus Blut, eines der Mädchen muss sich verwundet abgestützt haben. Der Fußboden wird mit einer größeren dunklen Verfärbung gezeigt, hier war Sharons Leiche gefunden worden.

Die Mädchen mussten einen verzweifelten Todeskampf führen. Sie wurden erschlagen, erwürgt, erstochen. Zuerst versuchte S. laut Anklage, Chiara zu erwürgen und mit einem Seil zu erdrosseln. Es bildete sich „eine massive Stauungsblutung im gesamten Bereich ihres Kopfes“. Sharon wachte auf und ging Richtung Chiaras Zimmer. S. soll ihr in den Weg getreten sein und mit der Hantel auf ihren Kopf eingeschlagen haben. Sie erlitt zwei große Wunden, wehrte sich aber, kratzte und verletzte S. an der Nase. Dieser nahm, so die Anklage, ein Messer aus der Küche und stach auf Sharon ein. Bei der Obduktion wurden fünf bis zu 17 Zentimeter tiefe Stiche in der Brust festgestellt, darunter in der Lunge, der Herzkranzarterie und im Herz. Sharon starb an massivem Blutverlust.

Währenddessen versuchte Chiara in Todesangst, sich in ihrem Zimmer zu verbarrikadieren. Der Täter kam dennoch herein. Mit der Hantel zertrümmerte er ihre linke Ohrmuschel und den Schädel. Mindestens elf Mal stach er dann auf den Oberkörper ein. Der Lungenlappen wurde durchstochen, im Hals unter anderem die Schlagader durchtrennt. Der Täter trug Chiara ins Schlafzimmer der Mutter und legte sie auf ihr Bett.

Fotos zeigen Sharon und Chiara als zwei fröhliche, selbstbewusste Mädchen mit langen, dunkelblonden Haaren. „Die Kinder haben sich immer sehr wohlgefühlt“, sagt die Großmutter Doris S. vor Gericht. „Anette ist mit ihnen unglaublich liebevoll umgegangen.“ Die Hantel ist gefunden; das Seil, das aus einem Baumarkt in Peißenberg stammt; die gereinigten Messer. Thomas S. hinterließ hundertfach Fingerabdrücke und Blut.

Tagelang werden vor Gericht die komplexen und zerrütteten Strukturen einer wohlhabenden großbürgerlichen Familie ausgebreitet, in die der mittellose S. eingeheiratet hatte. Es geht um strittige Erbschaften, den verstorbenen Vater der beiden Schwestern, die testamentarische Aufteilung des Familienbesitzes. Und wer mit wem aus welchem Grund nicht mehr spricht. Das Gericht und Prozessbesucher versuchen, in diesen Verwicklungen eine Erklärung für die Tat zu finden. Die Familienkonstellation ist sicher nicht alltäglich, aber auch nicht außergewöhnlich.

Auf der Suche nach dem Motiv

Die Schwestern hatten so gut wie keine Beziehung mehr zueinander. Sie seien, so sagt Ursula S. in einem „Stern“-Interview, „wie Yin und Yang“ gewesen. Die Mutter Doris zeigt in ihrer Vernehmung ganz offen, dass sie ein Lieblingskind hat. Anette, die Jüngere, sei stets „sehr lustig und offen“ gewesen, habe Abitur gemacht und die Dolmetscherschule absolviert. Ursula hingegen, so die Mutter, „hatte immer Schwierigkeiten“. Sie sei ein „Sorgenkind“ gewesen und habe „die mittlere Reife noch geschafft“. Ursula wurde Erzieherin, dann Hausfrau. Und natürlich hat sie den völlig falschen Mann geheiratet.

Seit der Tat hat Ursula niemanden mehr aus ihrer Familie getroffen, der Kontakt ist abgerissen. Vor Gericht machte sie keine Angaben. Von einer Verwandten wurde sie als „Hure“ beschimpft, weil sie für Interviews Geld genommen hat, vom „Stern“ sollen es 20 000 Euro gewesen sein. Mit ihren Kindern muss sie über die Runden kommen.

Ein Polizist erzählt, dass Thomas S. ihn zu Beginn der Vernehmung fragte, wie der FC Bayern gespielt habe. Der Gerichtspsychiater Henning Saß hat sich sieben Stunden lang mit dem mutmaßlichen Mörder über dessen Leben unterhalten. Er bescheinigt Thomas S. eine hohe Intelligenz. Allerdings sei er auch sehr von sich eingenommen, überschätze sich. Saß berichtet von der normalen Münchner Kindheit des gelernten Feinmechanikers. In der Clique habe er immer „der Stärkste auf dem Hof“ sein wollen. S. lächelt bei dieser Beschreibung. Saß erzählt von einem Abenteuer des jungen Mannes, der sich kurzfristig entschied, einen Schrott-Mercedes zu kaufen und Richtung Griechenland zu fahren. Nach einem Tag drehte er wieder um, er hatte kurz zuvor in München seine große Liebe getroffen und wollte sie wiedersehen. Sie wurde seine erste Ehefrau, es folgten zwei Kinder. Da grinst, grient und gluckst S. nur so. Die Griechenland-Episode habe der Angeklagte als einen der „Aussetzer“ bezeichnet, zu denen er manchmal neigt. Saß sagt das nicht zufällig so vor Gericht.

Am Dienstag sagte Thomas S. dem Gericht, er habe gar keine Geldprobleme gehabt. Die Familie habe nicht mehr ausgegeben als eingenommen, vielmehr seien im Jahr rund 22 000 Euro übrig geblieben, was gereicht habe. Auch hätte der Tod der Mutter der getöteten Schwestern wegen einer testamentarischen Erbregelung für seine Frau nur drei Euro 50 im Monat gebracht.

Er sagte: Dafür würde niemand zwei Kinder töten.

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