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Prozessauftakt in Stuttgart: Der Vater des Amokläufers von Winnenden steht vor Gericht

Er nahm seinen Sohn zum Schießen mit, damit er selbstbewusster werde. Doch eines Tages holte Tim K. die Waffe seines Vaters aus dessen Schrank und erschoss in Winnenden 15 Menschen. Ab heute wird Jörg K. dafür der Prozess gemacht. Und erstmals tritt der gebrochene Mann den Opfern gegenüber.

Als endlich alle sitzen, die Angehörigen der toten Schülerinnen, des Schülers und der Lehrerinnen, jene, die verletzt wurden, die Richter, die Staatsanwälte, die Anwälte, die Rechtsvertreter der Opfer – da erst kommt der Angeklagte. Durch einen Nebeneingang wird Jörg K. in den Saal geführt, ein bulliger Mann mit schütterem Haar und graubraunem Vollbart. Er huscht zu seinem Platz, ohne nach links und nach rechts zu schauen. Sein Sohn Tim hat am 11. März 2009 in Winnenden fünfzehn Menschen und anschließend sich selbst erschossen. Jörg K. gehörte die Neun-Millimeter-Pistole, die er verwendete, und die Munition dazu, 285 Schuss. Er hat sie nicht in einem Waffenschrank aufbewahrt, wie es im Gesetz steht, sondern im Schlafzimmerschrank unter Pullovern.

Deswegen steht er seit gestern in Stuttgart vor Gericht. Für eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung hat es nicht gereicht.

„Sind Sie zu Äußerungen bereit?“, fragt der Richter. „Nein“, sagt Jörg K., er sagt das Wort mit breitem schwäbischem Akzent, sein Gesicht ist gerötet. Keinen Blick hat er für die Angehörigen der Opfer, die vor und neben ihm an Tischen mit Namensschildern sitzen. Es sind so viele, dass der Saal des Stuttgarter Landgerichts umgebaut werden musste. 41 Nebenkläger treten in dem Prozess gegen Jörg K. auf, dunkel gekleidet, Frauen und Männer, Eltern, Geschwister, Ehefrauen der Opfer. Einer trägt eine Plakette im Revers, darauf eine durchgestrichene Pistole.

Erstmals muss sich in Deutschland jemand wegen eines Amoklaufs vor Gericht verantworten, der nicht direkt an dem Geschehen beteiligt war. Wäre es nach der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegangen, hätte Jörg K. einen Strafbefehl bekommen und die Sache wäre aus der Welt gewesen. Doch das verhinderte Generalstaatsanwalt Klaus Pflieger. Es gehe bei dem Prozess auch um „Generalprävention“. Darum, zu erfahren, wie und warum es zu einer solchen Tat kommen konnte. Deswegen gibt es nun eine Hauptverhandlung, in der an 27 Verhandlungstagen Polizisten, Gutachter und Psychiater auftreten werden und alles nochmal Revue passieren lassen. Deswegen sitzen so viele Angehörige der Opfer im Gerichtssaal. Einige von ihnen haben sich organisiert, im „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden“ kämpfen sie für eine Verschärfung des Waffenrechts. Eine Mutter hat ein Buch über ihre tote Tochter geschrieben. Die meisten aber stehen das erste Mal in der Öffentlichkeit. Als der Staatsanwalt die Anklageschrift verliest, halten sich einige an den Händen. Ein Mann beginnt zu weinen.

Es ist das erste Mal, dass der Vater des Amokläufers und die Eltern der Opfer aufeinandertreffen. Jörg K. habe versucht, mit den Hinterbliebenen Kontakt aufzunehmen, sei dazu „aber physisch und psychisch nicht in der Lage gewesen“, sagt sein Verteidiger. Er habe stattdessen ein paar Briefe verschickt.

Auch an diesem sonnigen Morgen sind von Jörg K. keine Antworten zu erwarten. Er blickt starr an die Wand, sein Verteidiger verliest eine Erklärung, in der es um das Leben von Jörg K. geht. 51 Jahre ist er alt, im Schwäbischen aufgewachsen. Er hat sich hoch gearbeitet vom Schaufenstergestalter zum Unternehmer mit eigener Firma für Montagearbeiten. Hochzeit 1991, zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. „Die Familie ist und war zentraler Bestandteil seines Lebens“, sagt sein Verteidiger, die Familie – und die Waffen.

Seit seiner Jugend begeistert sich Jörg K. für den Schießsport, seit 1974 ist er im Schützenverein. Alle drei Wochen ging er zum Schießstand, seinen Sohn Tim nahm er immer mal wieder mit. Damit der unter Leute komme und selbstbewusster werde. Tim teilte bald die Begeisterung für Waffen. Mit Softairpistolen spielten er und seine Freunde auf dem Spielplatz, sie nannten das „Schlacht“. Und einmal, das war in der 8. Klasse, fragte Tim einen Freund, ob er echte Waffen sehen möchte. Er öffnete den Tresor des Vaters und holte welche heraus. Anderen Jungen zeigte er im Keller des Hauses Munition, und einmal hat auch Jörg K. den Freunden seines Sohnes die Waffen gezeigt, sie durften sie auch anfassen. Die Initiative sei damals von Tim ausgegangen, hat einer der Jungen bei der Polizei zu Protokoll gegeben. Weil er stolz auf seinen Vater war und die Waffen, die er besaß.

Von seinem Verteidiger wird Jörg K. als gebrochener Mann geschildert, der sich nicht erklären könne, wie es zum Amoklauf in der Albertville-Realschule in Winnenden kam. „Es vergeht kein Tag, an dem er sich nicht fragt, was seinen Sohn zum Mörder hat werden lassen.“ Jörg K. weist alle Verantwortung von sich. Dass er von Tims Problemen gewusst habe, den Gewaltfantasien, die der Sohn in fünf Gesprächen einer Therapeutin anvertraute. Dass er mitbekommen habe, wie Tim sich ab Januar 2009 immer intensiver mit Amokläufen zu beschäftigen begann, Bilder von sich als Amokläufer erstellte, Worte wie „Massaker“ googelte. Er sei noch immer fassungslos, dass „Tim sich nicht mitgeteilt hat und die Eltern nichts bemerkt haben“, sagt Jörg K. Das sei sein „großes menschliches Versagen“.

„Ist das auch Ihre Erklärung?“, fragt der Richter, der später auch durchblicken lässt, dass K. je nach Prozessverlauf doch noch wegen fahrlässiger Tötung verurteilt werden könnte. Jörg K. nickt. Er ist schwer herzkrank, seine Firma musste er aufgeben, arbeitet nur noch tageweise. Mehrmals hat er mit seiner Familie den Wohnort gewechselt, immer wieder einen anderen Namen angenommen. Auch die 16-jährige Tochter hat eine falsche Identität, in der Schule kann sie nicht über ihre Familie sprechen, „sie lebt mit der Legende einer unwahren Vergangenheit“, sagt der Verteidiger. Und zitiert den früheren Bundespräsidenten Horst Köhler. Der hatte auf der Trauerfeier für die Opfer des Amoklaufs gesagt: „Auch die Familie des Täters hat ein Kind verloren.“

Das ist den Angehörigen im Stuttgarter Landgericht einerseits zu viel – andererseits zu wenig. Gisela Mayer ist eine schmale Frau im dunklen Hosenanzug, die neben ihrem Mann im Gerichtssaal sitzt, Tim K. erschoss ihre Tochter, die Referendarin an der Schule war. Sie hat das „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden“ ins Leben gerufen, um eine Änderung der Waffengesetze zu erreichen. Eine frustrierende Erfahrung. Zwar hat die Bundesregierung nach dem Amoklauf das Waffenrecht verschärft, das dritte Mal innerhalb von sechs Jahren, doch dem Ziel, Schusswaffen für Privatpersonen generell zu verbieten, ist das Aktionsbündnis bislang keinen Schritt nähergekommen. Es gelten lediglich strengere Bestimmungen, wie und wo man Waffen aufbewahren darf.

Derzeit sind Schätzungen zufolge zwischen zehn und 20 Millionen private Waffen in Deutschland im Umlauf – bei 1,5 Millionen Vereinsschützen. Genauere Zahlen gibt es nicht, da eine Statistik fehlt.

Der erste Prozesstag hat Gisela Mayer zugesetzt. Es sei schon schwer genug gewesen, ins Gericht zu kommen, sagt sie. Und dann noch das Schweigen des Angeklagten. Mayer will wissen, warum 15 Menschen sterben mussten. Will, dass jemand sich entschuldigt. Verantwortung übernimmt. Doch Jörg K. ist nicht wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, sondern wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz. Weil nicht sicher ist, ob Tim K. nicht auch Amok gelaufen wäre, wenn Jörg K. seine Waffe nicht im Schlafzimmer liegen gelassen hätte. Zeugen sagen, dass Tim K. den Code zum Tresor kannte, in dem der Vater Waffen und Munition aufbewahrte, sowie mehr als tausend Patronen.

Die Verteidiger fordern Straffreiheit. Jörg K. sei durch den Tod seines Sohnes und die Folgen der Tat gestraft genug. Selten war das Dilemma der Justiz, die Wahrheit zu finden, so offensichtlich: Hier 41 Leute, die Sühne für ein Verbrechen wollen. Da ein Angeklagter, der bei dem Verbrechen nicht einmal dabei war.

Jörg K. hat nach der Tat seine eigene Konsequenzen gezogen. Er ließ sämtliche Waffen, die er zu Hause hatte, vernichten.

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