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Psychologie: Der sympathische Entführer

Das Stockholm-Syndrom offenbart eine paradoxe Überlebensstrategie der Geiseln: Zuneigung zum Entführer, Hass gegenüber der Polizei. Auch die entkommene Natascha Kampusch scheint an diesem Phänomen zu leiden.

Wien - Im Fall der nach achtjähriger Geiselhaft in Österreich wieder aufgetauchten Natascha Kampusch gehen die Ermittler davon aus, dass die Entführte "an einem schweren Stockholm-Syndrom leidet". Das Phänomen, dass sich Opfer häufig mit ihren Peinigern identifizieren, wurde erstmals vor gut 30 Jahren am Beispiel eines Banküberfalls in der schwedischen Hauptstadt beschrieben. Sein Entdecker, der US-Psychiater Frank Ochberg, erklärt es als Rückfall in den Zustand eines hilflosen Kindes, das in jeder Hinsicht von der Mutter abhängig ist - als "Strategie zum Überleben".

Ochberg untersuchte den Überfall auf eine Bankfiliale am 23. August 1973, der die schwedische Öffentlichkeit sechs Tage lang in Atem hielt. Der Kidnapper, ein 32-jähriger Mann, nahm vier Angestellte als Geiseln, um Geld und die Freilassung eines Häftlings zu erpressen. Zwischen ihm und einigen Opfern entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung, eine Geisel verliebte sich sogar in ihn. Zwar heiratete sie den Kidnapper nicht, wie die Legende überliefert, doch blieb sie später eng mit ihm befreundet.

Ein Stockholm-Syndrom liegt vor, wenn die Geisel sich völlig paradox verhält, also Hass gegenüber Polizei und Behörden empfindet, ihrem Peiniger hingegen Zuneigung entgegenbringt, die dieser erwidert. "Das Opfer ist zunächst schockiert und überfordert und besinnt sich dann auf seine grundlegenden, primitiven Instinkte", erklärt der Psychiater das Phänomen. Um das eigene Leben zu retten, aktiviere die Geisel zu ihrem Geiselnehmer unbewusst Bindungssysteme wie zur Mutter.

Als bisher extremstes Beispiel einer Täter-Opfer-Beziehung gilt die Entführung von Patricia Hearst. Die Enkelin des US-Zeitungskönigs William Randolph Hearst solidarisierte sich während ihrer Geiselnahme 1974 mit den sozialrevolutionären Zielen ihrer Entführer und wechselte die Seiten. Wegen ihrer Beteiligung an Banküberfällen wurde sie später zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Der britische Psychiater William Sargant schrieb zu dem Fall: "Bei einem Menschen, dessen Nervensystem einem ständigen Druck ausgesetzt ist, kann eine paradoxe Gehirnaktivität auftreten - das Böse wird zum Guten und das Gute zum Bösen." (tso/AFP)

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