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Quer durch Russland - 15: Und über allem wacht Lenin

Fast in allen russischen Großstädten steht noch die Statue des Revolutionsführers. Was sagt das aus? Einige Gedanken zum Kommunisten, dessen Schutzpatron nun ein kapitalistischer Zar ist.

Unser Autor Nik Afanasjew reist zwei Monate lang quer durch Russland, um zwei schwere Fragen zu beantworten: "Wie ticken die Russen? Und warum sind sie so?" 

Ich wohne in Berlin-Kreuzberg. Dort gibt es eine Lenin-Statue, die steht bei einer Umzugsfirma auf dem Hof, neben der Eingangstür, das alles unweit der Spree. Ich grüße ihn manchmal, wenn ich vorbeigehe. Er grüßt nie zurück. So gut wie alle großen russischen Städte haben noch ihre Lenin-Statue, viele auch mehrere. Sie überblickt gewöhnlich von einem Sockel die Szenerie, oft auf dem wichtigsten Platz der Stadt. Der heißt häufig auch Lenin-Platz, manchmal Platz der Revolution, hin und wieder ganz anders. Aber das macht Lenin nichts aus, der kann das ab. Alles für die Sache und so.

In russischen Dörfern gibt es immer die Kirche und das Weltkriegsdenkmal. Über die Städte aber wacht Lenin. In Kazan erzählen sie einen Scherz: Wo ist es kälter, auf dem Platz der Freiheit oder an der Straße des 1. Mai? Auf dem Platz. Dort trägt Lenin einen Mantel. Lenin trägt im Süden Russlands oft ein Jacket und im kalten Osten einen Mantel. In Wladimir, alte Zarenstadt, ist er eher klein geraten, vor allem im Vergleich zu den Monarchen auf der anderen Straßenseite. In den von den Kommunisten heftig umgebauten und industrialisierten Ural-Städten Jekaterniburg und Tschlejabinsk ist er groß und stark. Lenin, so viele Jahre nach seinem Tod, ist sehr vielseitig.

In Ulan-Ude steht der weltgrößte Lenin-Kopf. Es ist jetzt völlig unnötig sich zu fragen, mit welchen anderen überdimensionalen Lenin-Köpfen er in dieser Meisterschaft konkurriert. Viel interessanter ist, dass Lenin dort, in Ulan-Ude, Hauptstadt Burjatiens, eine deutlich engere Augenpartie hat. In Burjatien ist Lenin eben Burjate.

In der fernöstlichen Kleinstadt Belogorsk glänzt Lenin golden, woanders silbern, meistens ist er allein, manchmal aber umringt von seinen Nächsten. Man könnte meinen, die Kommunisten hätten alles kontrolliert und protokolliert, normiert und gezählt. Aber nein, ein Register der Lenin-Statuen gab es nicht. Niemand weiß, wie viele es sind. Es gibt eine Website, die zählt die Statuen. Etwa 14.000 sollen es weltweit gewesen sein, als die Sowjetunion zerfiel. Etwa 8000 sollen noch stehen. Der Rückgang liegt vor allem an der Ukraine, wo Lenin fleißig demontiert wird. Es kommen aber auch stetig neue Statuen, Büsten, Gedenktafeln hinzu. Vor allem in Russland. Die Armee der Leninstatuen, mancherorts erstarkt sie.

Zwischenzeitlich sollen bis zu 200 Wissenschaftler an seinem Leichnam gearbeitet haben, damit er schön konserviert die Besucher im Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau erfreuen kann. In den vergangenen Jahren wurde berichtet, dass Lenins Leiche immer besser aussehe, weil sich die Methoden zur Konservierung verbessert hätten. Weniger Wissenschaftler erzielen heute bessere Ergebnisse – und er strahlt. Lenin, mehr als 90 Jahre nach seinem Tod, entwickelt sich eben immer noch weiter.

Von einer Mumifizierung könne keine Rede mehr sein, heißt es unter Experten, es ist etwas anderes: die am besten erhaltene Leiche aller Zeiten. Vielleicht ist es an der Zeit, diesen Prozess Leninisierung zu nennen. Lenin ist zwar Statue, aber... zumeist blickt er ernst und voller Sorge um sein Volk, die hohe Denkerstirn strebt nach vorne, er ist gewieft, so voller Tatendrang. Lenin ist Denker und Tatmensch. Lenin ist Gewaltintellektueller.

Ein Vorbild, ein entschiedener Mensch, vollendet in Schein und Sein! Das ist viel für jemanden, der die meiste Zeit seines Lebens mit früher Halbglatze in der neutralen Schweiz ausharren musste. Doch Lenin ist auch ein Kind seiner Zeit. Der Zeit der Ideologien, der Ismen, diese Zeit, als Menschen andere Menschen millionenfach umbrachten, weil sie einen besseren Menschen schaffen wollten. Es war auch die Zeit der großen Männer, als noch ganze Gesellschaften sich auf einen Götzen einigen konnten, als noch nicht alles fragmentiert und bis zur Unkenntlichkeit personalisiert war... Lenin, er ist tot, wie Michael Jackson, und wir alle wissen, dass Usain Bolt sie nicht wird ersetzen können.

Heute gibt es jemanden, der das Andenken an Lenins Kind schützt, die Sowjetunion. Viele nennen ihn einen neuen Zaren, den Mann im Kreml. Er ist allerdings ein Zar, der dem Kapitalismus frönt, einem besonders radikalen Kapitalismus, bei dem die Reichen sehr reich werden und die Armen... nun ja. Der kapitalistische Zar also wacht über Lenins Erbe. Lenin hat ja vor allem zwei Dinge gehasst: Den Zaren und den Kapitalismus. In Wladiwostok, am Ende der Transsibirischen Eisenbahn, steht Lenin gegenüber des Bahnhofs und weist fast wütend gen Pazifik. Weist er in Russlands ostige Zukunft?

Lenin heute... für die Alten ist er die gute alte Zeit. Die Jungen verwechseln ihn manchmal mit einer Comicfigur, hat eine russische Umfrage mal ergeben. Die einen können sich an ihm ergötzen und die anderen ihn ignorieren, er ist mal Europäer und dann Asiate, er ist Vergangenheit und Zukunft. Lenin ist wir alle, und sie alle können zu ihm aufblicken. Lenin. Nie waren seine Ideen so weit weg wie heute. Nie war er so egal. Nie war er so wichtig.

Mit diesem Beitrag endet die Reise quer durch Russland. Es folgt noch ein Text – die Reise im Zeitraffer: Ein Porträt Russlands im Vorfeld der Parlamentswahlen am 18. September 2016.

Teil 1 – Die Krim, das neue Staatsgebiet

Teil 2 – Der melancholische Verteidigungsminister der Hooligans

Teil 3 – Alle Wege führen nach Moskau

Teil 4 – In Kasan ist es wie in der Schweiz

Teil 5 – Seit einig und streitet euch!

Teil 6 – Stalin ist wieder da

Teil 7 – Ein Zwischenfazit, verflucht nochmal

Teil 8 – Der lange Marsch zum russischen Stonehenge

Teil 9 – Treffen sich ein Panzer, ein Meteorit und Chuck Norris in Tscheljabinsk...

Teil 10 - An diesem Tag ist jedes Jahr WM-Sieg

Teil 11 - Russlands grüner Exodus

Teil 12 - Im Angesicht des unendlichen Baikalsees

Teil 13 - Der Uhrenmacher von Uglitsch

Teil 14 - Eine Bahnfahrt, die ist lustig

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