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Panorama: Rasur: Mehrheit der Türken trägt keinen Schnurrbart

Die Türken sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. "Ein Türke ohne Schnurrbart ist wie ein Vogel ohne Federn", hieß es einst.

Die Türken sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. "Ein Türke ohne Schnurrbart ist wie ein Vogel ohne Federn", hieß es einst. Nackte Vögel hüpfen in der Türkei nicht herum, dafür aber immer mehr Männer mit nackter Oberlippe. Insbesondere im letzten Jahrzehnt hat sich der Trend zur Rasur rasant beschleunigt, bis jetzt ein historischer Meilenstein in der türkischen Kultur erreicht wurde: Erstmals in der Geschichte der Türken sind die Schnurrbärte in der Minderheit.

Das renommierte Istanbuler Forschungsinstitut PIAR, das alle vier Jahre ein neues "Profil der Türkei" erstellt, fand vor acht Jahren noch bei 77 Prozent aller männlichen Türken einen Schnurrbart vor. Vor vier Jahren waren es nur noch 63 Prozent, und in diesem Jahr erfolgte die Wende in den Mehrheitsverhältnissen: Nur 46 Prozent der Türken tragen noch Schnurrbart. "Die Türken trugen doch immer Schnurrbart", lamentiert die Zeitung "Hürriyet", die in der massenhaften Rasur den "Abschied von den Vorfahren" sieht. Tatsächlich wird mit dem Oberlippenhaar ein wahres Kulturgut der Türkei abrasiert. Im Gegensatz zum Vollbart, der aus religiösen Motiven getragen wird, war der türkische Schnurrbart stets ein rein kulturelles Phänomen. Der Träger unterstreicht damit nicht nur seine Männlichkeit und seine nationale Identität; er kann damit auch seiner Weltanschauung Ausdruck verleihen. Am Schnurrbart konnte man den Türken bisher erkennen: Umrahmt er die Mundwinkel, stellt sich der Träger damit als Ultra-Nationalist vor; hängt das Oberlippenhaar bis auf die Unterlippe herab, hat man es mit einem Sozialisten zu tun; ein präzise abgezirkeltes Oberlippenbärtchen identifiziert den Islamisten. Nostalgiker zwirbeln die Schnurrbart-Enden im osmanischen Stil hoch, städtische Playboys tragen zwei schmale Flügel unter der Nase. Gesetzliche Verordnungen regeln Länge und Form von Beamten-Schnurrbärten. Nun aber geht der Trend zum "weißen Türken", wie der glattrasierte und westlich gesinnte Mann hierzulande genannt wird. In der Abkehr vom Schnurrbart wird ganz klar eine Hinwendung zum Westen und zur europäischen Kultur gesehen. Die Verwestlichung des Landes schreite voran, kommentiert "Hürriyet" die Ergebnisse des neuen "Profils der Türkei". Mit der Rasur folgen die Türken wieder einmal ihrem Staatsgründer, Mustafa Kemal Atatürk, der nach dem türkischen Befreiungskrieg in den 20er Jahren nicht nur das Sultanat abschaffte, sondern auch seinen eigenen Schnurrbart. Fast 80 Jahre hat es gedauert, bis Atatürks Bestrebungen zur Europäisierung seines Landes sich bis auf die Oberlippen seines Volkes durchgesetzt haben. Nur die Volksvertreter bleiben wieder einmal hinter ihrer Zeit zurück: Zwei Drittel aller Abgeordneten im Parlament von Ankara tragen weiterhin Schnurrbart.

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