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Glück oder Last? Für viele Frauen ist das Muttersein das Bedeutendste, was ihnen je passiert ist. Aber nicht für alle. Foto: Julian Stratenschulte/dpa

© picture alliance / dpa

#Regrettingmotherhood: Mütter-Studie: Viel Aufsehen in Deutschland, wenig in Israel

Mit ihrer Mütter-Studie rüttelt die israelische Soziologin Orna Donath in ihrer jüdischen Heimat an einem Tabu. In Deutschland erregte sie damit viel Aufsehen, in Israel eher nicht.

Wenn morgens um acht Uhr das Handy klingelt, kann das nur Ima sein. „Guten Morgen Ima. Ja, alles gut bei mir. Ich fahr’ jetzt an die Uni“, sagt Elad. Ima ist das hebräische Wort für Mutter, und die jüdische Mutter ist nun einmal besorgt. Auch wenn der Sohn bereits 30 Jahre alt ist, längst nicht mehr zu Hause wohnt und vielleicht bald seine eigene Familie gründet – der tägliche Anruf ist obligatorisch.

Ima kümmert sich, sie weiß über (fast) alles Bescheid, kocht am Freitag ausgiebig, dass auch ja keiner beim Schabbatessen hungrig bleibt, und wünscht sich vor allem eines: viele Enkelkinder. Eine Frau, die in der Mutterrolle aufgeht – das ist das Stereotyp der jiddischen Mamme, der jüdischen Mutter. Doch Elads Ima ist echt und einer von zahlreichen Beweisen dafür, dass viele Frauen in Israel dieses Klischee erfüllen.

Die Soziologin Orna Donath hat ein Tabu gebrochen und mit ihrer Studie dieses Mutterbild infrage gestellt. 23 israelisch-jüdische Frauen haben ihr in wissenschaftlichen Interviews erzählt, dass sie es bereuen, Mutter geworden zu sein. Doreen zum Beispiel, eine 38-jährige Mutter dreier Kinder. „Ich würde auf sie verzichten, ehrlich. Ohne mit der Wimper zu zucken. Es fällt mir schwer, das zu sagen, weil ich sie wirklich liebe.“ Oder Tirtza: „Ich glaube, die ersten Wochen nach der Geburt des Babys habe ich gesagt: Das ist eine Katastrophe. Ich habe sofort gemerkt: Das ist nichts für mich. Und nicht nur das:Es ist der Albtraum meines Lebens. Ich hatte kein Interesse daran, Mutter zu sein. Es war anormal für mich. Auch Mami genannt zu werden. Bis heute.“

Künstliche Befruchtung wird in Israel großzügig finanziert

Das mag so gar nicht in die israelische Gesellschaft passen, in der sich Frauen vorrangig mit der Mutterrolle identifizieren, wie Orna Donath in ihrer Studie schreibt. Die Geburtenziffer sei die höchste unter den Industrienationen. Laut einer OECD-Statistik haben Frauen in Israel durchschnittlich 2,96 Kinder – in Deutschland hingegen nur 1,36. Frauen, die auf natürlichem Wege nicht schwanger werden können, erhalten in Israel künstliche Nachhilfe. Und die wird vom Staat großzügig finanziert: Frauen bis 42 Jahre, die noch nicht zwei Kinder haben, können bis zu achtmal eine In-vitro-Fertilisation (IVF) durchführen lassen.

Wer es hingegen wage zu äußern, keine Kinder zu wollen, dem schlage Kritik entgegen: „Menschlichkeit, Weiblichkeit und die geistige Gesundheit werden infrage gestellt, und sie hören die Aussage, dass sie sich schon ganz natürlich an das Muttersein anpassen werden.“ Donath hat bereits zuvor an einer Studie über jüdisch-israelische Männer und Frauen gearbeitet, die nicht Eltern werden wollten. Ein Satz habt sie dabei begleitet. „Die Prophezeiung, die meist an Frauen gerichtet wurde: Du wirst es bereuen“, erzählt Donath. „Ich fand das verstörend.“ So untersuchte sie die andere Seite: Frauen, die es bereuen, Mutter geworden zu sein.

Ihre Studie sei nicht als Anti-Kinder-Weisung zu verstehen. „Ich glaube, dass das Muttersein für viele Frauen die bedeutendste Sache ist, die ihnen je passiert ist, auch wenn sie Ambivalenzen, Konflikte und Schwierigkeiten erleben.“ Doch fühlten eben nicht alle genauso. In Deutschland hat die Studie große Aufmerksamkeit erregt, es gab viele Debatten – was die Wissenschaftlerin zunächst überraschte: „In Israel haben wir das Bild von Deutschland als einem Land, in dem es legitim ist, nicht Mutter zu sein.“ Andererseits stünden eben auch Frauen aus anderen Ländern und sozialen Gruppen unter Druck.

Die Aufforderung, Kinder zu haben, richtet sich in Israel an Männer und Frauen

Doch was wirklich überrascht: In Israel erhielt die Studie nur wenig Aufmerksamkeit. In den Medien findet sich wenig darüber, kaum eine Mutter sagt öffentlich: „Ich gehöre auch dazu.“ Selbst die Journalistin Allison Kaplan Sommer, die regelmäßig für die Tageszeitung „Haaretz“ über Frauen und Familien schreibt, kann keine gesellschaftliche Debatte erkennen: „Wir sind eben immer noch in einem Zeitalter, in dem das Thema tabu ist.“ Dabei sei das Klischee der jüdischen Mutter nicht ganz verkehrt, doch sei es nicht mit den sogenannten Helikopter- Eltern zu vergleichen sind, die ständig über ihren Kindern schweben. „Israelis lassen ihren Kindern mehr Freiraum“, sagt Kaplan Sommer. „Viele Mütter arbeiten. Auch, weil sie es sich nicht leisten können, zu Hause zu bleiben. Frauen opfern hier also nicht alles für ihre Kinder.“

Die Aufforderung, Kinder zu haben, richtet sich laut Kaplan Sommer gleichermaßen an Männer und Frauen. Dabei sei es egal, ob sich eine Frau bewusst dazu entschieden habe, Single zu bleiben. Die Journalistin verweist auch auf homosexuelle Eltern: „Wenn der Sohn seinen Eltern erzählt, dass er schwul ist, ist es für die Eltern oft okay, solange er trotzdem Kinder haben möchte.“

Kaplan Sommer erkennt dahinter zwei Ursprünge. Zum einen seien große Familien Teil der Kultur des Nahen Ostens, was sich bei jüdischen Familien, die aus arabischen Ländern einwanderten, zeige. Zum anderen sei es ein „Holocaust-Syndrom“: Nachdem so viele Juden umgebracht wurden, müssten die Überlebenden für Nachkommen sorgen

Orna Donath glaubt jedenfalls, dass die Dunkelziffer der Frauen, die keine Kinder wollen oder es bereuen, Mutter geworden zu sein, noch viel höher ist, sie es aber aufgrund des sozialen Drucks nicht laut sagen könnten. Die 39-Jährige, die sich selbst bewusst gegen Kinder entschieden hat, hofft auf einen sozialen Wandel – auch in Israel, sodass mehr und mehr Frauen so leben können, wie sie es möchten.

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