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Panorama: "Reise in den siebenten Himmel": Saturn hat immer Appetit

Es ist ein Besuch bei Bekannten. Iwan Karamasow taucht auf und Tolstoi höchstpersönlich, Onegin, Mandelstam, Babel.

Es ist ein Besuch bei Bekannten. Iwan Karamasow taucht auf und Tolstoi höchstpersönlich, Onegin, Mandelstam, Babel. Ljudmila Ulitzkaja, die Reiseführerin, empfiehlt sich mit ihrem Roman selbst für die Aufnahme in diese Ahnengalerie. Auch ihr Held, Pawel Kukotzki, entstammt einem großen Geschlecht, einer traditionsreichen Medizinerfamilie. So folgt er dem Ruf des Stammbaums, doch den Erfolg als Arzt sichert ihm sein magischer Blick: Pawel Alexejewitsch, kurz "PA", kann in die Patienten hineinsehen, durch Haut und Knochen, erkennt so sicher jedes kranke Organ. Ein Seher mit Narrenfreiheit.

Obwohl er adlig ist und sich im Kampf gegen das Abtreibungsverbot mit den Mächtigen anlegt, macht er im Sowjetstaat Karriere. Kukotzki pflegt seinen Röntgenblick, bis der eines Tages beim Anblick der sterbenskranken Jelena versagt. Es gelingt ihm, sie zu retten, er verliebt sich und nimmt sie bei sich auf. Jelena bringt Tochter Tanja und Wassilissa, die fromme Haushälterin mit. Der erste Weltkrieg erschafft eine Familie. Später zerbricht die Idylle in dem Moment, da sie der unglücklichen Toma Zuflucht gewähren. Ihre Mutter hat eine Abtreibung nicht überlebt. So sind die Personen auch "schicksalsergeben", gehen "ihren vorgezeichneten Weg".

Ljudmila Ulitzkaja kann blendend erzählen. Lakonisch und sicher treibt sie die Handlung voran, und der Schein der Vorbestimmtheit wird manchmal als Trugbild enthüllt. Überhaupt ist Dialektik ein Motor des Romans. Was die einfältige Wassilissa gottgläubig behauptet, stößt bei dem Rationalisten Pawel auf Ablehnung, die Mystik der Tolstojaner präsentiert sich und wird ihrerseits widerlegt. Der skurrile Genetiker Goldberg, der wieder und wieder in Lagerhaft gerät, verteidigt als russischer Quijote seine Ideen, die selbst Kukotzki zu modern sind. Ulitzkaja besitzt die Gabe, jeden mit seiner Sicht ernst zu nehmen..

Die Biologin Ulitzkaja lässt uns Geburt, Krankheit und Tod mit den Augen des Arztes beobachten, ohne das die Seele an technischem Vokabular erstickt. Mit leichter Hand, mit viel Witz, wird die Wissenschaftssprache benutzt. Etwa als Pawel nicht einfach Wodka trinkt, sondern die "liebe gute Hydroxylgruppe mit dem gesättigten Kohlenstoffatom". Ljudmila Ulitzkaja, die noch vor wenigen Jahren sicher war, nie ein dickes Buch zu schreiben, hat gerade das jetzt ganz großartig getan.

Hervorragend übersetzt von Ganna-Maria Braungardt, leitet die Autorin eine Reise durch das russische Jahrhundert, führt uns an Stalins Sarg, erinnert an das Schicksal der russischen Juden, weist auf die Denkmäler der großen Autoren und nimmt uns mit in stickige Jazz-Clubs. In leisen Tönen rechnet Ljudmila Ulitzkaja auch mit dem Staat ab, der wie Saturn seine Kinder verschlingt. Sie führt Verbannung, Lager und Flucht schlicht als Teil der Welt vor, die ihre Personen bevölkern. Die Verbreitung ausländischer Literatur, für die auch die Autorin einst mit dem Regime Ärger bekam, wird ebenso beiläufig wie eindringlich geschildert. Durch die Landschaft, in die wir geführt werden, weht eine wunderbare Traurigkeit.

Enttäuschend ist nur der zweite Teil des Buches. Während später rührend vorgeführt wird, wie Jelena langsam in Wahnsinn verfällt, gerät dieser Abschnitt zur futuristischen Farce der Fahrt über den Styx. Über hundert Seiten verwandelt sich das Panorama in eine apokalyptische Landschaft, durch die wir den entstellten Helden folgen. Allen voran schreitet Pawel, der jetzt nur "der Kahlgeschorene" heißt. Er führt eine Schar Sünder in die Hölle, die bei Ulitzkaja am fernen Rand einer Schlucht liegt.

Auch Pawel ist natürlich ein Sünder, er hat unzählige Föten getötet. In dieser Fieberwelt ist es unwirtlich, wie in Franz Kafkas Schloss, eine triste Metapher, ein Krater in der Handlung. Im übrigen Buch stellt Ulitzkaja Träume effektvoll in den Dienst des Erzählten, im zweiten Teil wird das Delirium zum faden Selbstzweck. Aber man verzeiht ihr auch dies, weil ihre Prosa auf den verbleibenden gut 400 Seiten luftige Höhen erreicht.

Tobias Krause

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