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Land in Sicht! Oder doch nicht? Wer viele Tage hintereinander auf offener See verbringt, sieht nicht viel. Doch wer genau hinschaut, erkennt eine sich ständig ändernde Szenerie.

© PA

Abenteuer Seefahrt: Das Meer in allen Farben

Eine Kreuzfahrt ohne Hafen, ohne Landgang und Ausflugsprogramm. Wer den Atlantik überquert, erlebt wahre Entschleunigung.

Blauer Himmel, nur am Horizont tropische Haufenwolken. Der Nordostpassat treibt eine lange Dünung vor sich her. Etwa alle halbe Stunde schwappt Wasser aus dem Pool auf das Sonnendeck. Ein Jogger zieht bei 28 Grad im Schatten seine Runden, die Reling entlang. Es ist der zweite Seetag auf einem langen Törn über den Atlantik. Seit Bridgetown, dem letzten Hafen auf den karibischen Inseln, hat das Schiff 557 Seemeilen zurückgelegt; vor uns liegen weitere 2059 nautische Meilen, noch sechs Tage bis zu den kanarischen Inseln. Ohne Hafen, ohne Landgang, ohne Ausflugsprogramm.

Der Kapitän gibt die Position durch: 16°9’ N, 50° 46’ W, das ist derselbe Breitengrad wie bei Acapulco oder Bangkok. Unter dem Kiel, das sagt er auch noch, geht es fast 6000 Meter in die Tiefe. Die Passagiere nehmen es mit wohligem Schaudern zur Kenntnis. Und beobachten, wie die letzten Möwen, die uns von Barbados gefolgt sind, abdrehen in Richtung Küste.

Einen Tag später, 400 Seemeilen weiter östlich. Die Temperatur ist um zwei Grad gefallen, 26 Grad, morgens um neun. Heute Nacht mussten die Uhren um eine Stunde vorgestellt werden. Zehn Gäste treffen sich an Deck zu Yoga-Übungen. Das meditative Programm passt zur langsamen Annäherung an den alten Kontinent. Keine Hektik morgens an der Gangway, kein Drängeln an Bussen oder Ausflugsbooten. Das Leben an Bord passt sich dem Rhythmus dieser Seereise an: Die Schachfreunde nehmen sich Zeit für ihre Turniere, Vorträge über die schönsten Städte der Welt schicken Träume hinter die Erdkrümmung, die in dieser Einsamkeit gut zu sehen ist.

„Delfine an Backbord voraus“

Vierter Seetag, 7 Uhr 30. Enttäuschung beim ersten Blick auf den Fernseher in der Kabine. Dort wird das Bild übertragen, das eine Kamera am Bug einfängt: bleigrauer Himmel, Schaumkronen auf grünen Wellen, der Wind weht mit Stärke 5. Das Schiff schaukelt sanft, im Tanzstudio geraten Paare aus dem Takt. Aber schon gegen Mittag glitzert das Meer wieder, und rechtzeitig zur Kaffeezeit holt die Stimme des Kapitäns aus dem Lautsprecher die dösenden, lesenden, träumenden Passagiere aus den Deckstühlen: „Delfine an Backbord voraus.“ Immerhin drei Minuten lang begleiten uns die glänzenden Leiber, springen neben dem Schiff her, geben eine Galavorstellung.

Der nördliche Wendekreis ist passiert; wir haben die Tropen verlassen. Mit ruhiger See und wenig Wind halten wir Kurs auf die Kanaren, 646 Seemeilen voraus. Irgendwo an Steuerbord soll Mauretanien liegen, gut 1000 Kilometer entfernt. Zwei Schiffe begegnen uns in großer Distanz, ein Containerfrachter, ein Tanker. Die alten „Seefahrer“ unter den Passagieren fachsimpeln mit Ferngläsern vor den Gesichtern über mögliche Routen und Reedereien dieser Dampfer da in der Ferne.

Noch einmal ein langer Sonnentag, allein mit Wind und Wolken. Viele Passagiere haben sich ein stilles Plätzchen an der Reling gesucht. Andere, inzwischen wieder unternehmungslustig geworden, statten der Bordküche, der Maschine oder der Brücke Besuche in kleinen Gruppen ab. Gegen Mittag, 18 Grad Außentemperatur, Luftdruck steigend, nähert sich eine erste Seeschwalbe von Europa her; neugierig kreist sie um das Schiff herum. Land in Sicht, nach gut 4000 Kilometern. Die ersten Koffer werden gepackt, die Bilder vom Farewell Dinner beim Bordfotografen abgeholt. Auf einmal werden auch die Nachrichten aus der Heimat wieder wahrgenommen, die da jeden Morgen in die Kabine flattern: „Allofs wechselt von Bremen nach Wolfsburg ... Steuerstreit hält an ... Berlin/Bandenburg regnerisch, fünf Grad ...“

Santa Cruz auf Teneriffa. In sechs Tagen über den Atlantik. Nicht viel ist passiert. Nur dies: fliegende Fische, das Meer in allen Farben, Wolkentürme und ein Wind, der das Bild am Himmel alle paar Minuten neu gemalt hat.

Bernd Schiller

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