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Die Stadt: Mythos aus Sand

Timbuktu: sagenumwobene Stadt in der Südsahara, ihr Name ist Legende. Unser Autor hat sie besucht. Eine Reise in die Realität.

Da liegt es, das Land der Sahara mit seinen Schorfschichten in Gelb, Hellrosa, Blutrot, die Siedlungen gepfercht, umzingelt von irgendeiner Natur, die aus den schütteren Wäldern, den dürren Ebenen Gefahren schicken könnte, der Niger breit und mürrisch, in einem opulenten Becken von kleinen Inseln besetzt, briefmarkengroße Felder darauf.

Der Niger, ein Delta aus zahllosen Rinnsalen, Kanälen und Seebecken, wird immer neu zur Demarkationslinie zwischen Schwemmland und roter Wüste. Dann wieder schwindet sein Einfluss, und er trägt das Grün seiner Ufer ein paar Meter weit ins Land. Der Flughafen von Timbuktu wird von fünf Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag bewacht. Wir sollen geduckt, zu beiden Seiten militärisch flankiert, das Hauptgebäude erreichen.

Umgeben von einem Ring der Schmerzen ist Timbuktu, einem Ring der Hitze, der Entbehrungen, des Durstes, des Krieges. Fast erloschene Nomaden lagern im Schatten der Lehmziegelwände, auf ärmlichen Märkten reihen sich die Bäuerinnen im Spalier, vor jeder drei Früchte, drei Knollen, ein Bündel Gemüse. Draußen Lumpensammler, frei laufende Kranke und Verwirrte, Kriegsopfer auf selbst gemachten Krücken oder Wägelchen.

Übermüdet straucheln wir in ein vom Frühlicht schmutzig durchspültes Hotelzimmer. Gedanken sind kaum mehr erreichbar. Bloß Auge, tasten wir die gekalkten Wände ab, die Tapeten, den Zimmerschmuck. Da hängt das Bild einer Bambushütte, und ein paar halbnackte Eingeborene kauern davor wie in einem rassistischen Film – eine Momentaufnahme, auf der niemand einen Weg in die Aufmerksamkeit der Welt sucht. Schaut, ein paar stehengebliebene Schwarze. Abgesehen davon gibt es keinen Schmuck.

Timbuktu, diese legendenumwobene Stadt in der Südsahara, gelegen auf dem Punkt, an dem sich Nigerdelta und Sahara berühren, war ein politisch bedeutsames, aufgeklärtes, von Gelehrten bevölkertes Zentrum. Im frühen 12. Jahrhundert gegründet, gab die Stadt, Sitz von Schriftgelehrten und Philosophen, der Islamisierung des Kontinents wesentliche Impulse. Sie war Handelsstation, denn über den Niger wurde das Gold des Kontinents herbeigeschafft, sie war zugleich Verkehrsknotenpunkt: Auch heute noch führen von hier die Karawanenstraßen zu den Oasen nach Norden und neuerdings auch die Fluchtwege der Migranten auf dem Weg nach Europa.

Timbuktu ist Sand, vor allem Sand, alles sinkt in Sand, ist aus Sand gemacht oder nimmt seine Farbe, selbst seinen Geruch an. Der Sand strahlt die Hitze ab, der Sand holt sich die Stadt, zu Sand soll sie werden. Das einzige, dem Verfall offenbar entzogene Objekt ist auf einer Fassade die bronzene Tafel mit der Aufschrift: „Hier lebte der Afrikaforscher Heinrich Barth. Dieses Haus besuchte im Jahre 1956 Präsident Heinrich Lübke.“

Nachdenklich flanieren Glaubensmänner durch die Gassen, Muthala im Mund, das Kaustöckchen, das sich mit seinen antibakteriellen pflanzlichen Inhaltsstoffen in der Dentalhygiene bewährt. In einem Hinterhof sehen wir zu, wie Steinbrocken zerschlagen werden. Das so gewonnene Mehl mischt man als Nahrungszusatz ins Essen für Schwangere. Pissende Männer stehen breitbeinig über dem Fluss oder in den Hängen. Die Bananen verwandeln sich auf dem Rost in etwas, das nach Kastanien schmeckt. Das Kino ist bloß eine unterkühlte Garage mit ein paar Holzbänken und einem U-matic-Projektor. Als die lächerlich animierte Trick-Schlange auf der Leinwand erscheint, springt die Frau vor mir schreiend über zwei Bänke nach hinten. Alle Nachrichten zirkulieren hier schnell. Abends schlendern Männer in den Hof, um uns Geschäfte anzubieten, weil sie gehört haben, dass wir uns nach einem Gegenstand, einem Hotel, einem Verkehrsmittel erkundigt haben. So sitzen sie nacheinander an unserem Tisch: der Verkäufer von silbernen Kreuzen unterschiedlicher Stämme; ein Junge mit Musikkassetten, dem ich am Tag zuvor zwei abkaufte, und der nun seinen Fundus aufgestockt hat; ein Abweichler des lokalen Taxi-Syndikats, der unseren Versuch, privat nach Bobo Dioulasso zu gelangen, als „Betrug“ bezeichnet. Er selbst feilscht um Tarife, die wir beim Syndikat nie bekommen würden, und schwächt seine Verhandlungsposition durch dauerndes Trinken. Bald ist er völlig betrunken und undiplomatisch.

Kaum ist es so weit, steht ein morgenländischer Teppichhändler vom Gebet auf, um uns vor dem verrückten Taxifahrer zu warnen: „Sie sollten das Fahrgeld besser in einen Teppich investieren.“

Der fliegt zwar nicht, lässt sich aber ausrollen. Er wird ausgerollt. Der Nächste, ein Discjockey, hegt keine merkantilen Absichten, wie er bekennt, hat aber „Handelsvertreter“ auf der Visitenkarte stehen. In seinem Gefolge dringen Anbieter von Tuareg-Schmuck, Postkarten, Trockenfrüchten in den Hof, alle deprimiert, weil so wenige Fremde da sind.

Die westliche Trennung von Arbeit und Freizeit gilt hier nicht. Man breitet ein Tuch auf dem Gehweg aus und beugt sich darüber. Alle sind Familienmitglieder, alles sind Familiensachen. Spiele besprechen, Lachen, Tauschen, Touristen-Jagen, es ist alles eins, das Aufzwingen von Konversation, das Perlenfädeln, über dem man sich Geschichten erzählt.

Ich ging zum Niger, kniete nieder und streckte beide Hände ins Wasser, um es getan zu haben. Ein Alter saß abseits in der Hocke. Er schien zu verstehen, nickte und lächelte, und die Frauen, die am Boden Mais über dem Feuer rösteten, winkten mich heran und schenkten mir einen Kolben zur Feier des Augenblicks. Ihre Hütten sind mit Müll bedeckt, damit die Dächer nicht wegfliegen.

Vor einem Kaktus duckte sich in den Unrat ein Pelikan, der sich mit dem Schnabel die Brust putzte, neben ihm fraß die Ziege von einem Pappkarton, musste ihn aber gleich mit vier weiteren Jungtieren teilen. Ein Kind schleuderte einen Ziegenschädel an seinem Horn ins Wasser, und ein Mann in einem tief violetten Bubu erzählt mir mit dem winzigen Silberpfeifchen zwischen den ausgeleierten Lippen von seiner Geliebten und nennt sie „meine Neunte“.

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Über einen Deich laufe ich zu einem Weiher hinunter, in dem drei Ochsen getränkt werden. Wieder und wieder öffnet sich am Weg die Ebene, wo zwischen Baracken und Hütten Ziegen grasen. Ein Junge läuft an meiner Seite, einen zerbrochenen Eimer mit dem Stock über die Straße treibend. Bis hinunter zu einem Flussarm läuft er, wo mich ein anderer Junge zu seiner Piroge ruft, mit der ich zur Sandbank in der Mitte des Stroms übersetze, und schon nähern sich die Siedler:

„Wo sind die Medikamente?“

Als ich meine leeren Hände zeige, dramatisieren sie heftiger:

„Mein Kopf tut weh“, die Hand geht hin, „mein Magen schmerzt“, die Hand verkrampft sich dort.

Als Tuareg verlassen sie ihre Insel nicht, gehen nie auf die andere Flussseite. Aus dem Strom hört man trotzdem das Schreien von Kindern.

„Keine Sorge, das sind die, die zum ersten Mal hinüberschwimmen, sie haben noch Angst.“

Ich erreiche das Ende einer Landzunge. Ein Mann stellt sich mir in den Weg:

„Hier auf der Spitze, ein paar Meter weiter nur, ziehen wir Salat. Wenn Sie ihn sich ansehen möchten … Dafür mache ich Ihnen einen besonderen Preis.“

Wo der Markt fehlt, wird alles Markt, auch die Betrachtung von Grünzeug. Ich sage ihm, dass ich Salat schon einmal gesehen habe. Er tut erst erstaunt, dann wendet er sich mit Hochmut ab.

Die Kinder spielen am Wasser, die Frauen sitzen auf den Schwellen ihrer Hütten und verlesen Gemüse, die Männer thronen erhöht auf Dächern oder Mauern. Im Abfall häufen sich Lebensgeschichten. Da ist ein Kind, das mit einer Aluminiumkrücke in einem Muschelhaufen stochert, während darüber, mit ihren abgetretenen, ausgefransten Flügelenden, die Geier kreisen. Die jungen Mädchen dagegen haben sich zur Toilette auf die Felsbrocken in der Lagune zurückgezogen, wo die Füße gewaschen, die Zöpfe geflochten werden, während die Jungen sich an einem Fußballspiel mit zwei Bällen versuchen. Alle Gerüche schweben über einer Basisnote von Fischabfall und Exkrementen.

Alles existiert zur Verkörperung eines großen Namens: Timbuktu, Heimat der Indigo-Männer, der Tuareg. Doch auch Vermummte, Bewaffnete, Krüppel, Bettler, fliegende Händler, Priester, alle, die hier leben, tun es, weil sie hier noch überleben können, und das nicht zuletzt, weil sie einen Zugang gefunden haben zum Reisenden. Der kennt Polizisten-, Beamten-, Bedienstetengesichter, findet aber alles, was im Zusammenhang mit den Tuareg steht, plötzlich edel.

Man wandert durch den Blick der Bettler. Sie müssen die Augen nicht mehr auf den Handteller senken, um zu wissen, was ihn beschwert. Die Touristen empfinden vage, dass diese Kreaturen schon durch die Begegnung mit ihnen, den von weit Herkommenden, geadelt werden, und eine Frau, die den Tuareg ein westliches Einwickelpapier verehrte, belehrt ihre Freunde:

„Wieso, das ist doch für die was ganz Tolles, Seltenes, so ein Papier.“

Das Strandgut rund um den Flughafen: Der Europäer kommt aus dem Zustand des Wartens hier nie heraus, der Einheimische ist nie in ihn eingetreten. Da ist Fatima mit dem lüsternen Mund, den schmachtenden Augen und einer weißen, halb durchsichtigen Bluse, die um ein großes Schwellen gerafft ist. Von Zeit zu Zeit blickt die Thronende kontrollierend auf ihre Brüste herab, und kommt ein Fremder vorbei, gestikuliert sie mit ihnen.

In eine Ecke hat man einen Fernsehschirm montiert, auf dem Videofilme zu sehen sind. Die kleinen Jungen lungern in Trauben herum und können sich nicht entscheiden, was fesselnder ist, der Anblick des Films – Bertrand Bliers „Abendanzug“ – oder der Anblick des weißen Paares, das wir sind.

Es ist unser letzter Tag. Wir haben mit einem Tuareg Tee im Sand vor dem Flughafen getrunken. Seine beiden Kamele sind schon gesattelt.

„Wo ziehen Sie hin?“

„In meine Oase.“

„Wie lange werden Sie unterwegs sein?“

„Drei Wochen.“

„Was finden Sie dort?“

„Meine vier Frauen.“

„Und was machen Sie an den Abenden?“

„Wir erzählen uns Geschichten.“

Vor meinem inneren Auge erscheint der Horror Vacui des deutschen Ehemannes, der seiner Gattin allabendlich Geschichten erzählen müsste.

Wir nehmen zu unserem Abschied seine welke Hand in die unsere und lassen sie, schlaff wie sie ist, für einen Augenblick so liegen. In meiner Linken habe ich einen Schein vorbereitet, einen für ihn sehr großen Schein, die einzige Möglichkeit des Augenblicks, seinem Leben einen Effet zu geben, etwas zu bewirken, das bleibt. Ich gebe ihm die Hand zum Abschied, dann schiebe ich den Schein nach.

Er blickt mir seelenruhig in die Augen mit diesem cremigen Blick, der so ambitionslos kommt, als wolle er nur verweilen. Dann brechen seine Augen für einen Wimpernschlag aus, schnellen hinab auf die Hand, dann noch einmal hoch zu mir: Ob ich weiß, was ich tue? Ob ich mich geirrt haben und gleich alles rückgängig machen könnte?

Er lässt mich fahren, den Schein in der Faust, und läuft voraus, an der Gangway vorbei, unter der Maschine hindurch, über die Landebahn, auf der anderen Seite die Böschung aufwärts und wieder abwärts in den Dünensand.

Ich lasse die anderen Passagiere an mir vorbei die Gangway hochsteigen und blicke ihm weiter nach, bis er zuletzt nur noch ein Partikel in der Landschaft ist, der sich immer langsamer fortbewegt. Als ich dann am Fenster sitze, die Maschine abhebt und Höhe gewinnt, kann ich erkennen, dass er ins Nichts läuft mit keinem Haus, keiner Siedlung als Ziel. In dieser ganzen Zone der Sahara ist nichts als diese Bewegung, die Bewegung einer Flucht ohne Fluchtpunkt, die von nichts angetrieben wird als von der Möglichkeit, zu fliehen.

Der Text ist ein stark gekürzter Vorabdruck aus Roger Willemsens neuem Buch „Die Enden der Welt“, das am kommenden Mittwoch, den 8. September, erscheint (S. Fischer Verlag, 544 Seiten, 22,95 Euro).

Roger Willemsen

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