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Reise: Am Gleis der Abenteuer

Wer mit dem Zug durch Tansania fährt, reist nicht sehr bequem. Ist aber immer nah dran an Land und Leuten.

Mit strenger Miene stolziert Raffael Fabian Samwe durch die Wartehalle des Bahnhofs in Daressalam. In der rechten Hand hält er einen schwarzen Stock, den er lässig schwenkt. Schnell merkt man: Der Mann hat hier etwas zu sagen, eine Respektsperson. Einige Hundert Personen haben sich eingefunden, Aufregung herrscht. Nur alle zwei Tage fährt hier ein Zug. Die Räder knirschen über die schier endlos wirkende Schienenstränge, die in der Hitze flirren. In der Bahnhofshalle reihen sich Wartende vor Schaltern, an denen jeder Fahrschein per Hand ausgestellt wird. Wir stehen auf dem Bahnhof der ehemaligen Hauptstadt von Tansania. Hier beginnt die 1860 Kilometer lange Strecke nach Kapiri Mposhi in Sambia, deren Betreiber die binationale „Tanzania Zambia Railway Authority“ ist, kurz Tazara.

Tazara ist eine afrikanische Idee, die in den 60er Jahren konzipiert wurde, um den Export von sambischem Kupfererz zu erleichtern. Mit chinesischer Hilfe. „Die Bahnlinie wurde 1976 in Betrieb genommen“, erzählt Raffael. Die Spurbreite der Gleise sei der südafrikanischen Kapspur angepasst worden und nicht der bereits 1914 mit deutschem Know-how fertiggestellten Mittellandbahn zum Tanganjikasee. „Deswegen haben wir nun zwei Bahnhöfe in Daressalam – einen chinesischen und einen deutschen“, plaudert Raffael weiter. Die Wartenden lässt er währenddessen nicht aus den Augen, winkt einen Drängler zur Ordnung. Männliches Gehabe, denkt man. Bis sich uniformierte Mitstreiterinnen in Position begeben. Mollige Matronen mit grimmigen Gesichtern und stämmigen Waden, die trotz der Hitze mit dicker Wolle bestrumpft aus plumpen Lederschuhen ragen.

Ordnung muss sein, und die Einhaltung von Regeln erst recht. Eine davon besagt, dass der Bahnsteig frühestens 45 Minuten vor Abfahrt betreten werden darf. Die schon vor Stunden mit Kind und Kegel angereisten Fahrgäste haben alle Sitzplätze im Wartebereich erobert. Nachzügler lagern auf dem Boden oder auf Gepäckstücken. Fahrgäste der 1. Klasse dürfen in einem Separee Platz nehmen, das mit einem entkernten Fernseher und dem übrig gebliebenen Mobiliar einer Bar besticht.

Dann ist es so weit. Die Zerberusse geben den Weg frei. Eine Melange dunkelhäutiger Menschen in bunten Kleidern und Tüchern mit einem vielseitigen Sortiment an Habseligkeiten strömt in Richtung der gebuchten Plätze. Männer und Frauen verschwinden in getrennten Abteilen. Auch das ist eine Regel. Nur wenige der mitreisenden Weißen kennen sie. Der Rest studiert hilflos die handgeschriebenen Tickets. Wo sind die gebuchten Plätze, wo die 1. Klasse? Tatsächlich steht man direkt davor. Vier Liegen, zwei unten, zwei oben. Bettbezüge, Decken? Fehlanzeige. Wer mit dem Liebsten kuscheln will, hätte das gesamte Abteil für sich buchen müssen. Die Toilette befindet sich am Ende des Waggons. Ein Eimer Wasser dient als Spülung. Immerhin, urteilt der Pragmatiker, während Nostalgiker seufzend an sehnsuchtsvolle Fernsehreportagen denken, in denen schwerreiche Ruheständler im spätkolonialen Ambiente des südafrikanischen Luxuszuges „Pride of Africa“ durch die Weite der Savannen gondeln. Willkommen in der Realität, heißt es bei Tazara. Willkommen in Afrika.

Völlig unafrikanisch ertönt pünktlich um 15 Uhr 50 eine Pfeife, die stählerne Raupe stampft gen Südwesten. Geradezu lieblich wirkt die Savanne. Umschmeichelt vom warmen Licht der Nachmittagssonne gleitet die Landschaft am Fenster vorbei, während sich die Reisenden mit ihren Mitbewohnern einrichten. Kiume Sumaye beispielsweise. Hochgewachsen, hager, Mitte 50, in schwarzer Hose und Jacket. Er ist Grundschullehrer in Mlimba, reist mit leichtem Gepäck. Oder Maalik, der nur seinen Vornamen nennt und zunächst recht schweigsam bleibt. Um die 30 mag er sein. Einen Rollkoffer hat er dabei und einen Laptop, auf dem er eifrig herumtippt. Später kommt ein Dritter hinzu. Damit ist die Männerpension voll belegt.

Nebenan im Damenabteil lagern auf vier Liegen drei junge Frauen und viel buntes Gepäck. Mürrisch wird der letzte Gast begrüßt. Ein Sitzplatz? Heftig gähnend erheben sich zwei Grazien aus der Horizontalen, während die dritte schüchtern an den Falten ihres weißen Kleides herumzupft und ein Stückchen beiseite rückt.

Um die Stimmung zu heben, bietet sich eine Trekkingtour zum Bordrestaurant an. Vom Dahinschweben deutscher ICEs verwöhnt, wankt und schwankt der Reisende, hin- und hergeschüttelt, durch zahlreiche Waggons. Eine gefühlte Tageswanderung lang. Etwas derangiert erreicht der Reisende den dicht belagerten Tresen. Tansanisches Kilimandscharo Bier fließt in Strömen. Auch hier ist gerades Stehen und Gehen nahezu unmöglich. Allein der Barkeeper hält sich wacker, und so gelingt die Bestellung des Abendmahls: Hühnchen mit Chips und Gemüse. Lieferung ins Abteil. Wenn das mal gutgeht. Etwa eine Stunde später scheppert ein Zugbegleiter mit Rollwagen durch die Gänge und erreicht unfallfrei seine hungrigen Gäste.

„Die Qualität des Zuges ist eine Schande“, sagt Kiume, während er am mageren Huhn kaut. Von Anfang an habe die Linie Verluste gemacht, weil sie aufgrund fehlender Wartung oft außer Betrieb war. 1983 seien die chinesischen Experten zurückgekehrt. Seitdem fahre die Eisenbahn zuverlässig. Weiterhin ein Problem: Korruption und lethargisches Management. „Mit den anderen Bahnlinien sieht es noch schlimmer aus“, meldet sich Maalik zu Wort, der plötzlich mitreden will. Die Regionalstrecke zwischen Manyoni und Singida sei nach 15 Jahren Bauzeit immer noch nicht fertig. Andere Strecken habe man einfach stillgelegt, so auch die ehemalige Usambarabahn. Sie war das erste Bauprojekt in der deutschen Kolonie.

Die Arbeiten dafür begannen im Juni 1893 unter Schachtmeister Friedrich Philipp Schleef. Nach einigen finanziellen Turbulenzen musste die Projektgesellschaft vom Staat übernommen und von der Ostafrikanischen Eisenbahngesellschaft betrieben werden. Die Eröffnung der ersten Teilstrecke bis Moshi erfolgte 1911, die spätere Verlängerung nach Arusha gelang bis 1929 unter britischem Mandat. In den 1990ern wurde der Betrieb eingestellt.

„Tazara gilt als eine der gut unterhaltenen Eisenbahnstrecken Afrikas“, erzählt Maalik, als der Zug abrupt zum Stehen kommt. Kurz vor Kisaki. Strenger Geruch durchzieht die Gänge. Junge Männer laufen aufgeregt umher. Einige klettern nach draußen und funzeln mit Handys durch die Nacht. Auch Kiumu treibt die Neugier. „Es brennt“, schreit er. Jetzt hängen alle gaffend aus Fenstern und Türen. Eine Bremsscheibe ist blockiert. Ausgerechnet hier. „Da läuft einer mit Gewehr rum“, berichtet Kiumu und klärt auf, wo wir sind. Mitten im Selous Game Park, mitten im Jagdrevier hungriger Raubtiere. Auch die angespannten Gesichter der ersten Helfer zeugen nicht gerade von Gelassenheit. Nun müssen sie auch noch die verdammte Bremse lösen. Was letztlich gelingt.

„Weder war ich in Eile, noch musste ich irgendwann irgendwo sein“, beschreibt der Autor Paul Theroux während einer Zugfahrt durch tansanisches Buschland die Entdeckung seiner eigenen Belanglosigkeit: essen, lesen, gucken, schlafen. Und ein gutes Gespräch. Wenn das kein Glück ist.

Zeit zum Schlafen, nachdem die chinesischen Waggons ihre poltrige Fahrt fortgesetzt haben. Sie hängen an einer Lok der Friedrich Krupp AG, die während der Nacht ihr zweites Gesicht zeigt. Wie eine manische Irre jagt sie mit ihrer Gefolgschaft über die maroden Gleise, als seien nun alle Bremsen ihrer Verantwortung enthoben, als sollte Tazara-Express in der nächsten Kurve abheben. Bis zum nächsten Morgen geht das so. Der gibt sich zur Abwechslung schottisch – mit dicken Nebelschwaden, die durch strauchiges Bergland wabern. Kühl ist die Luft, feucht und schwer. Hin und wieder ein Sonnenstrahl, der durch den Nebel dringt. Und als habe das erste Licht jene dunkle Seite vertrieben, stampft Tazara nun wieder gemächlich voran, so als sei nichts geschehen.

Makambako. Verspätung trotz nächtlicher Höllenfahrt. Viele Menschen steigen aus, andere drängen hinein. Da der Zug so lang ist, stehen die meisten Waggons außerhalb des Bahnsteigs. Um festen Boden unter die Füße zu bekommen, müssen sich alle gut einen Meter hinabhangeln. Mit Kind und Kegel. Und viel Gepäck. Alltag hier, denn die Bahnlinie ist eine wichtige Verkehrsader nach Südwesten, die winzige, oft schwer zugängliche Orte entlang der Strecke verbindet. Für Touristen mag die Fahrt ein Abenteuer sein oder die Erfüllung eines Traums. Für die Einheimischen hingegen ist sie notwendiges Übel, um Verwandte zu besuchen, Waren zu verkaufen oder anderen Geschäften nachzugehen.

Das gilt auch für Maalik. Beim Frühstück erzählt er, dass er für ein Reisebüro tätig sei. Konzepte und Tourenvorschläge soll er ausarbeiten. „Die Trassenführung wurde von den Chinesen nach einem neunmonatigen Fußmarsch festgelegt“, lässt er seine Zuhörer wissen. 30 000 Afrikaner und 16 000 Chinesen seien an der Strecke beschäftigt gewesen. 300 Brücken, 25 Tunnel und 147 Stationen wurden gebaut. Zu Nyereres Zeiten hieß die Bahn Great Uhuru Railway, „Zug der Freiheit“.

Gegen 15 Uhr Ankunft in Mbeya. Nur zwei Stunden Verspätung und das Ende einer kurzweiligen Reise, die nun neuen Pfaden folgt. Mit dem Bus nach Kipili am Tanganjikasee. Weiter mit der Liemba nach Kigoma. Kiume ist bereits zu nächtlicher Stunde ausgestiegen. Trennung ohne Abschied. Abschied von einem Stück gemeinsamen Weges. Längst hat die innere Uhr aufgehört zu ticken, so als sei Zeit nicht mehr als eine Vision. Allein die Landschaft fliegt vorbei, verändert sich alle paar Minuten. Man selbst bleibt. Wie Maalik, der nach Sambia weiterreist. Trennung mit Abschied.

Sarah Paulus

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