zum Hauptinhalt

Reise: Am grünen Blättermeer

Ein Besuch in Deutschlands neuester Jugendherberge. In Prora, wo das „KdF-Seebad Rügen“ nie Wirklichkeit wurde, schläft man schön ruhig

Laken, Decken- sowie Kopfkissenbezug liegen gewaschen, gebügelt und fein säuberlich gefaltet auf den Stockbetten. Als freundliche Leihgabe des Hauses findet der neu eingetroffene Gast auch ein Handtuch vor, das von der Größe her allerdings fast als Waschlappen durchgehen könnte. Nun ja, erst mal das Bett beziehen. Willkommen in der Jugendherberge! Nicht in irgendeiner in deutschen Landen, sondern in der „längsten Jugendherberge der Welt“, wie es heißt, in Deutschlands neuester: in Prora auf Rügen, dort, wo einst die Nationalsozialisten ihren Traum vom „KdF-Seebad Rügen“ in einem viereinhalb Kilometer langen Gebäuderiegel umsetzen wollten, ein (Alb)Traum, der sich jedoch nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nie erfüllte. „Kraft durch Freude“ im Sinn der Nazi-Ideologie wird hier niemand schöpfen (wollen), und den Komfort eines Sterne-Hotels wird auch keiner der Übernachtungsgäste erwarten.

Immerhin hat das soeben eröffnete Haus mit 402 Schlafmöglichkeiten den Status einer Vier-Sterne-Jugendherberge. Auch der Bauherr, der Kreis Rügen, meint: Es kann sich sehen lassen (siehe Kasten). Als unbezahlbare Dreingabe dürfen Jugendgruppen, Familien oder Einzelreisende zudem tief in die Geschichte eintauchen. Die reicht nicht nur zurück in die Nazizeit, sondern birgt auch ein düsteres Kapitel DDR-Geschichte: In Block V (von ursprünglich acht) des gespenstisch langen Ziegelriegels in bester Strandlage, wo jetzt munteres Treiben Einzug gehalten hat, waren ab 1982 sogenannte Bausoldaten untergebracht, jene jungen Männer, die den Dienst an der Waffe in der Nationalen Volksarmee (NVA) ablehnten und stattdessen als „Spatensoldaten“ unter der Knute der Streitkräfte 18 Monate „im Interesse der Deutschen Demokratischen Republik“ malochen mussten.

Die im „Koloss von Prora“ einquartierten Wehrdienstverweigerer wurden überwiegend zum Ausbau des Fährhafens Mukran bei Sassnitz abkommandiert, ein Projekt, das „vor allem der Sowjetunion wichtig war, nachdem es zu Beginn der 80er Jahre in Polen politisch zu brodeln begonnen hatte“, wie Susanna Misgajski sagt. Die studierte Gymnasiallehrerin aus Schleswig-Holstein lebt seit mehr als zehn Jahren auf Rügen und ist Geschäftsführerin sowie pädagogische Leiterin des Vereins Prora-Zentrum. Mit Eröffnung der Jugendherberge setzt sie große Hoffnung darauf, dass möglichst bald ebenfalls im Block V eine Bildungs- und Begegnungsstätte eingerichtet wird. „Ich gehe davon aus, dass wir Ende 2013 die Räume in unmittelbarer Nachbarschaft der Jugendherberge nutzen können“, sagt Misgajski. Insbesondere Jugendlichen wolle man einen speziellen Teil deutscher Geschichte am Beispiel Prora anschaulich vermitteln: von der Nazi-Ideologie des Kraft spendenden Urlaubs für den „deutschen Volksgenossen“, über Kriegszeiten, als Prora zur Ausbildung von militärischen Einheiten, als Behelfsunterkunft für Ausgebombte und Evakuierte sowie als Lazarett genutzt und unter Einsatz von Zwangsarbeitern provisorisch weiter ausgebaut wurde, bis zur DDR-Zeit, als zunächst die Kasernierte Volkspolizei (KVP) und danach die NVA das Gelände bis 1990 nutzten. Bereits jetzt können sich Interessierte im eher behelfsmäßig untergebrachten Prora-Zentrum über die Geschichte informieren.

Auch der frischgebackene Herbergsvater Dennis Brosseit begrüßt die Pläne einer Bildungsstätte im selben Block. „Das wäre eine ideale Ergänzung“, sagt der 36-jährige Berliner, der im Grand Hotel Esplanade das Rüstzeug für seine heutige Aufgabe bekommen und gemeinsam mit Ehefrau Nadine in den vergangenen fünf Jahren gar ein eigenes kleines Hotel im Südosten von Mallorca geführt hat. Der Begriff „Herbergsvater“ entlockt dem Vater von zwei Kindern allerdings nur ein müdes Lächeln. „Na ja, Geschäftsführer trifft’s als Beschreibung wohl eher.“ Gewiss, das alte Klischee vom strengen Herbergsvater, der abends um zehn „Licht aus!“ brüllt, passt auf Brosseit ebenso wenig wie wohl auf die meisten Leiter heutiger Jugendherbergen. Den Eindruck eines „Geschäftsführers“ macht der sportliche Typ in Jeans und T-Shirt auf seine Gäste allerdings auch kaum. Bei den etwa 30 Mitarbeitern sieht das schon anders aus: „Der Chef weiß, was er will...“, heißt es.

Ein dreiviertel Jahr ist Brosseit durch die Stockwerke und die bis zu „genau 141,35 Meter langen“ Gänge gewirbelt, damit alles auf den Punkt zur geplanten Eröffnung fertig wurde. „Das war knapp, doch es ist gelungen.“ Das 5. Stockwerk allerdings liegt quasi noch im Zustand eines Rohbaus. Die Investitionssumme – immerhin 23,5 Millionen Euro aus unterschiedlichen Töpfen – reichte nur für vier Geschosse. Die sind dafür zukunftsträchtig gebaut: 20 Zentimeter dicke Wärmedämmung, dreifach verglaste Fenster, Wärmetechnik mit Blockheizkraftwerk, Rapsöl- und Gasbrenner. Für das Gebäude besteht Denkmalschutz, also waren zusätzliche, kaum sichtbare, gleichwohl kostspielige Konstruktionen nötig. „Die Investition hat sich gelohnt, auch wenn der fünfte Stock nicht fertig ist. Dafür haben wir nun ein CO2-neutrales Haus“, sagt Brosseit.

„Jedes Zimmer mit Meerblick“, hatte Architekt Clemens Klotz 1936 versprochen und alle Schlafzimmer zur See ausgerichtet. Jedoch, wer heute aus dem Fenster blickt, schaut auf ein grünes Blättermeer. Das war mal anders geplant: Eine komplett gepflasterte Promenade sollte sich zwischen Ziegelriegel und Strand im „Bad der 20 000“ erstrecken. Nun hat sich die Natur den Streifen zurückerobert.

An Jugendherbergen hat so mancher unterschiedliche Erinnerungen – einige gruselig. Doch keine Bange: Die quietschenden, mit grausamen Matratzen belegten Betten, auf denen man abends in seinen mitgebrachten dünnen „Jugendherbergsschlafsack“ schlüpfte und sich unter einer meist muffigen, immer kratzigen, schwergewichtigen Decke wohlzufühlen versuchte, sind vorbei. Die Zeit der düster- kalten Waschsäle auch. Allein die Verpflegung wahrt Kontinuität: zum Frühstück Schrippen, Grau- und Vollkornbrot, süßer Aufstrich, Käse, Wurst – fertig. Gut, etwas Müsli und Joghurt gibt’s auch. Mittags: warm, reichlich, Fisch und Fleisch, sehr gern paniert, dazu die üblichen „Sättigungsbeilagen“, garniert mit Grünzeug. Abends: siehe Frühstück ohne Schrippen, dafür mal mit „etwas Warmem“. Alles einfach, unkompliziert und – das wird auch verwöhnte Gäste überraschen – völlig ausreichend. Da setzt die deutsche Jugendherberge offenbar auf Tradition. Und noch eins ist geblieben: Ein vernünftiges Handtuch sollte man keinesfalls vergessen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false