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Papi Sergeij in seinem Garten, an seinem eigenen Grab.

© Julia Prosinger

Armenien: Gott mag Maulbeerwodka

Die Landschaft des Kaukasus und ihre schroffen Steine erzählen von den Ursprüngen des Christentums. Die Menschen sind tief gläubig geblieben

Von Julia Prosinger

Eigentlich soll er ja nicht mehr trinken, sagt Papi Sergej, Väterchen Sergej, und knackt eine Walnuss mit den Händen. Aber jetzt, wo Besuch da ist, könne er doch ein Glas wagen, vom Besten, das er im Haus hat, selbst gebrannten Maulbeerwodka. Armenisches Nationalgetränk. „Auf Gott“ und „Kenaz – auf dein Wohl“.

Die Armenier lieben Superlative: Sie leben im ältesten christlichen Land der Welt. Sie haben den ältesten Schuh gefunden, ledern, 5500 Jahre alt, Größe 37. Gleich daneben die ältesten Weinreste. Und Papi Sergej mit fast 80 Jahren und einem fleckigen Trenchcoat ist der letzte Bewohner des Dorfes Shinuhayr. Der letzte Herzschlag der Schlucht.

Alle anderen Familien sind in den vergangenen Jahrzehnten nach und nach hinauf gezogen, dorthin wo jetzt eine Straße entlangführt, wo es Geschäfte gibt, Strom und Telefon. Sergej ist geblieben.

Armenien ist nichts für Anfänger

Wer ihn besuchen möchte – das kann jeder Tourist, denn Papi Sergej liebt Gäste – der muss einen steinigen Weg zu Fuß zurücklegen. Ein steiler Geröllpfad, der sich immer tiefer in die Schlucht hinabwindet. Spitze Kiesel stoßen durch die Schuhe, Staub lässt einen husten.

Papi Sergej tischt alles auf, was er hat.
Papi Sergej tischt alles auf, was er hat.

© Julia Prosinger

Armenien, das kleine Land im Südkaukasus, ist nichts für Anfänger. Es wirft sich einem nicht entgegen, schmiegt sich nicht an, hat weder Traumstrände noch das beste Essen der Region. Seine Schrift besteht aus 36 labyrinthischen Schnörkeln, seit dem fünften Jahrhundert nach Christus unverändert. Schwer erlernbar. Deshalb konnte man sie in Zeiten der Unterdrückung geheim nutzen und rettete seltene Pergamentrollen aus brennenden Kirchen. Armeniens Sprache ist ähnlich kompliziert. Schon allein das Wort für Danke: Shnorhakalutyun.

Jahrzehnte des Krieges und der Sowjetunion haben die Armenier misstrauisch gemacht, ein Lächeln muss man sich erarbeiten. Und darum ist es wie bei jeder Liebe, um die man mühsam kämpfen musste. Sie ist besonders stark. Wer Armenien liebt, der liebt es richtig.

"Eine der aussichtslosesten Volkswirtschaften der Welt"

Sergej, bucklig, mit abgewetzter Schiebermütze, die Plastiksandalen hat er schnell gegen ein paar lederne getauscht, führt nun auf seinen eigenen Friedhof hinterm Haus. Da liegen Steine, die aussehen wie bestickte Kissen – im Zentrum ein gemeißeltes Kreuz, drumherum hat der Künstler Palmbäumchen herausgearbeitet, rankendes Weinlaub, majestätische Löwen.

Es sind Chatschkare, Kreuzsteine: Symbole des armenischen Glaubens, im ganzen Land verteilt, oft zerbrochen. Steinerne Bücher. Geübte können davon ablesen. Stenografie für die Ewigkeit. Manche Chatchkare sind Grabsteine, andere erzählen von gewonnenen Schlachten, unerwiderter Liebe oder sollen vor Naturkatastrophen schützen. Kein Stein gleicht dem anderen. Einige sind unschätzbar wertvoll – Papi Sergej ließ nicht zu, dass ein Museum die seinen entführen würde.

Die ärmste Nation im Kaukasus, eine der aussichtslosesten Volkswirtschaften der Welt („Forbes Magazine“), ist ein steinreiches Land. Warum sich in Rom und Pompeji, in Petra und Athen mit tausenden Touristen drängen? Armenien lässt sich noch entdecken.

Der Berg Ararat liegt unerreichbar auf türkischem Gebiet

Vollendete Baukunst, Gewölbe im Kloster Haghpatavank. Errichtet im 10. Jahrhundert, gehört es inzwischen zum Unesco-Weltkulturerbe.
Vollendete Baukunst, Gewölbe im Kloster Haghpatavank. Errichtet im 10. Jahrhundert, gehört es inzwischen zum Unesco-Weltkulturerbe.

© Mauritius Images

Viele dieser Steine sind in Klöstern verbaut. Meist gigantische Kreuzkuppelkirchen mit Rundbögen über den Fenstern und rechteckigem Vorraum, dem Gawit. Er diente als Versammlungs- oder Unterrichtsort der Mönche. Wandmalereien sieht man kaum, dafür umso reichere Reliefs – aus Stein.

Auf den Spuren des Christentums landet man zunächst in Khor Virap. Einsam liegt das Kloster aus dem 17. Jahrhundert in der Ebene, von einer Mauer umgeben, dahinter erhebt sich 5165 Meter hoch und schneebedeckt der Ararat, an dem die Arche Noah gestrandet sein soll. Seit dem Genozid von 1915 ist der biblische Berg für die Armenier unerreichbar – hinter der türkischen Grenze.

Auf dem Gelände des Klosters führt eine schmale Leiter sechs Meter hinab zum Ursprung des armenischen Christentums: Der König, ein leidenschaftlicher Christenverfolger, hatte den Missionar Gregor hier 13 Jahre lang in eine Schlangengrube gesperrt. Dann wurde der König krank, der Legende nach war ihm als Strafe Gottes ein Schweinekopf gewachsen, und er befreite den Missionar.

Gregor taufte ihn, der König war geheilt. Fortan hieß dieser Begründer der armenisch-apostolischen Kirche „Gregor der Erleuchter“, und Armenien wurde, 301 nach Christus und 79 Jahre vor dem Römischen Reich, die erste christliche Nation der Welt.

Die Armenier hielten all die Jahrhunderte an ihrem Glauben fest

Mit einem goldenen Hammer soll Jesus Gregor dem Illuminator schließlich gezeigt haben, wo er die erste Kirche des jungen christlichen Landes zu errichten habe: Edschmiatsin, das bedeutet „herabgestiegen ist der Eingeborene“, Sitz des Katholikos, sozusagen der Vatikan der armenisch-apostolischen Kirche. Das religiöse Zentrum des Landes, Unesco-Weltkulturerbe. Hier ehren sie ein Stück Treibgut, angeblich eine Planke der Arche Noah. Hier taufen sie am liebsten ihre Kinder. Es ist schwer, einen Termin für das wichtige Ritual zu bekommen.

Denn die Armenier hielten all die Jahrhunderte an ihrem Glauben fest wie Papi Sergej an seiner Schlucht. Araber, Perser und Mongolen, das Zarenreich und das Osmanische Reich erkämpften sich Einfluss auf das Land, durch das die nördliche Seidenstraße führte. Vom 14. Jahrhundert an war Armenien überhaupt kein Staat mehr, die Kirche übernahm nun dessen Aufgaben.

Auch während der Sowjetzeit, als Kirchen zu Viehställen umfunktioniert wurden, blieben die Armenier bei Gott. Und wann immer eines der vielen Erdbeben, Armenien liegt auf der Kante der arabischen und der eurasischen Platte, ihre heiligen Stätten zerstörte, bauten die Armenier sie erneut auf. Es machte sie nur noch dickköpfiger.

Ein Mann, ein Land

Auch Papi Sergej kennt Trümmer. Er hungerte während des Zweiten Weltkrieges, die einzige Kuh der Familie verendete, von den acht Brüdern, die an die Front geschickt worden waren, kehrte kaum einer zurück. Sergej lief aus der Schule davon in die Gärten, auf der Suche nach ein paar Aprikosen. Später arbeitete er in Aserbaidschan als Chauffeur. Ein Diplom, dass er stets unfallfrei gefahren ist, kann er noch vorzeigen.

Dann begann in den 90ern der Krieg um Bergkarabach, Sergej zog sich in sein Heimatdorf zurück, weil Armenier im Nachbarland bedroht wurden. Seine Frau ist früh gestorben, seine Töchter leben in den USA und Weißrussland. Seitdem ist er allein im Dorf. Die Enkel des Bruders versorgen ihn mit der Post.

Jetzt humpelt er ins Haus – holt Pellkartoffeln, saftige Tomaten, knackige Gurken und noch mehr Maulbeerwodka. Mit schweren, groben Leinen ernten die Frauen auf den Dörfern im Frühsommer die brombeerähnlichen Früchte. Eine klettert hinauf in die Baumkrone, prügelt mit einem Stock auf die Äste, sodass die dunklen Beeren herabrieseln. Die anderen fangen sie im gespannten Tuch auf.

Aufgeben ist kein Talent der Armenier

Papi Sergej und sein Garten – das ist Armenien in klein. Wie er da so steht, kriegserprobt und kantig, mit undurchdringlich schwarzen Augen, allein gegen den Rest der Welt, gibt er ein gutes Sinnbild ab. Ein Mann, ein Land. Aufgeben ist kein Talent der Armenier.

Dabei hätten sie einigen Grund. Mit dem Nachbarn Aserbaidschan leben sie wegen Bergkarabach im brüchigen Waffenstillstand, die Grenze zur Türkei ist auch wegen des Streits um die Anerkennung des Genozids geschlossen.

Armenien ist abhängig von Iran und Georgien wegen des Zugangs zum Meer, und vor allem von Russland. Das besitzt große Teile der armenischen Wirtschaft. Von elf Millionen Armeniern weltweit leben nur drei im Mutterland, die übrigen sind als Diaspora in aller Welt verteilt.

Im Kloster Norawank heiratet man im Viertelstundentakt

Bauernmarkt in Eriwan.
Bauernmarkt in Eriwan.

© Julia Prosinger

Wer klein ist, Armenien hat gerade mal die Fläche Brandenburgs, muss sich groß machen. Wenige Kilometer von Papi Sergejs Schlucht entfernt liegt Tatev, das – Achtung, Superlativ! – größte Kloster des Landes, zu dem – Achtung, Superlativ! – die längste Seilbahn der Welt hinaufführt.

Hier erklären die Priester den Besuchern gern die Unterschiede zu anderen christlichen Glaubensrichtungen. Die armenische Kirche und mir ihr weitere orientalisch-orthodoxe lehnten die Beschlüsse des Konzils von Chalcedon ab.

Die armenische Kirche ist vergleichsweise fröhlich

Für die Armenier ist Jesus daher Gott und Mensch zugleich, anders als bei der katholischen Kirche, die an zwei getrennte Naturen Christi glaubt. Die Priester erklären den Besuchern, dass im Altarbereich niemals Schmerz vorkommt. Jesus blutet nicht vom Kreuz herab. Die armenische Kirche ist vergleichsweise fröhlich.

Das sieht man auch im Kloster Norawank, das zeitlos schlicht über einer Schlucht mit ziegelroten Klippen hängt. An den sandfarbenen Mauern ranken Hagebuttensträucher. Hier heiratet man im Viertelstundentakt. Stolze Bräute schleifen lange Schleier hinter sich her über 700 Jahre alte Steine. Von einer Kirchenwand blickt gütig ein Mann mit Rauschebart und vollen Wangen: Gott. Dies ist einer der wichtigsten Unterschiede zu anderen christlichen Kirchen. Wo man sich sonst kein Bildnis seines Gottes machen soll, darf er in der armenisch-apostolischen Kirche gezeigt werden.

Wer die Sowjetunion verpasst hat, kann sie hier noch erleben

Es sind nicht nur Gesteinsschichten, die in Armenien übereinander liegen. Es sind Systeme. Gleich neben dem Friedhof mit den ältesten und meisten Kreuzsteinen des Landes, am Ufer des Sewansees, – wieder ein Superlativ: einer der größten Hochgebirgsseen der Welt – rosten metallene Picknickbänke vor sich hin. Sie stammen, wie die Wohnblöcke mit Heldenverzierungen, aus der Zeit des Kommunismus. Niemand hat sie weggeschafft, so als könne man sie eines Tages noch gebrauchen. Wer die Sowjetunion verpasst hat, kann sie hier noch erleben.

Das Kloster Tatev.
Das Kloster Tatev.

© Julia Prosinger

Auch Orient und Okzident treffen aufeinander. Zu den persischen Feiertagen strömen Iraner aus dem Süden herauf, um im christlichen Armenien Alkohol zu trinken, in den Casinos zu pokern und die knapp bekleideten Mädchen zu bewundern, wie sie auf hohen Absätzen Eriwans Hügel erstöckeln.

Die Hauptstadt Eriwan ist nicht schön. Nicht auf den ersten Blick. Aber sie ist – Superlativ! – eine der ältesten Städte der Welt, gegründet im achten Jahrhundert vor Christus. Das beweist eine in Stein gehauene Geburtsurkunde.

Von 1920 an war Eriwan sowjetisch. Der Architekt Alexander Tamanian baute es komplett um. Was schön war und vom Erdbeben im 17. Jahrhundert übrig, Kirchen und Moscheen, persische Bäder, die Festung, ersetzte er durch neoklassizistische Gebäude aus rotem Tuffstein. Stadt in Pink.

Der eigene Grabstein steht schon

Dorthin fährt Papi Sergej nicht. Nur als ihn seine Töchter mal dazu zwangen. Er kennt weder die schicken Weinbars, in denen sich die Künstlerszene trifft, noch die Schulen, an denen das Bildungsministerium vor vier Jahren den Nationalsport Schach als Pflichtfach eingeführt hat. Schach trainiert Logik und Konzentration. Papi Sergej war auch noch nie in dem Museum, wo die Armenier, hundert Jahre später, dem Genozid an ihren Vorfahren gedenken.

Sergej findet die Welt gut, wie sie ist. Er steht morgens um fünf auf, es gibt genug zu tun. Niemand schreibt ihm etwas vor. Dann wandert er hinüber zu seinem Friedhof. Da ist schon ein Stein mit seinem Namen. 1936–20...

„Schade, dass ihr nicht länger bleibt“, sagt er zum Abschied. Er habe noch gar nicht richtig gekocht. Nicht einmal Lawasch aufgetischt, jene dünnen Teigfladen, in die man Ziegenkäse bröckelt und Kräuterbüschel stopft: Koriander, Estragon, Petersilie und Basilikum.

Am 10. Januar wird Sergej 80 Jahre alt, da sollen alle wiederkommen.

Tipps für Armenien

ANREISE

Nonstop-Flüge von Berlin aus gibt es nicht. Mögliche Verbindungen sind mit Ukraine International Airways über Kiew, mit Aeroflot über Moskau oder mit Agean Airlines über Athen. Ticketpreise ab rund 330 Euro.

VERANSTALTER

Studiosus-Reisen bietet eine zehntägige Tour zu den Klöstern an unter dem Motto: „Faszinierendes Juwel im Kaukasus“. Die Reise gibt es zu einem Preis ab 1895 Euro und zu verschiedenen Terminen. Einen ähnlichen Rundtrip in neun Tagen verkauft SKR-Reisen ab 1489 Euro. Mehr Informationen und Buchung im Reisebüro oder im Internet unter den Adressen: studiosus.com oder skr.de

INDIVIDUELL

Armenien kann man leicht auch allein bereisen. Gut und zentral übernachtet man in Eriwan im Republica Hotel zum Preis von ab 96 Euro pro Doppelzimmer oder traditionell im Boutique-Hotel Tufenkian. Preiswerter ist das Envoy Hostel mitten im Ausgehviertel auf der Puschkin-Straße. In Goris kommt man gut unter im Hotel Mirhav, in Yeghegnadzor im B6B Good House.

REISEFÜHRER

Jasmine Dum-Tragut: Armenien, Trescher Verlag, Berlin 2014, 21,95 Euro

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