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© AFP

Macau: Glück am seidenen Faden

Seit zehn Jahren gehört Macau, einst portugiesische Kolonie, wieder zu China. Hier lockt das größte Casino der Welt – und nun auch hehre Kultur.

„Heute Mittag springen zehn Personen“, sagt das Turmfräulein. Sie führt durch die 61. Etage in einem der höchsten Türme der Welt und erzählt, was die Menschen auf diesem Level so alles anstellen. Der erste hängt schon in den Seilen. Versunken in einem orangefarbenen Overall, betrachtet der junge Mann die Turmfassade aus der Vogelperspektive. Gleich wird er von der Bildfläche verschwinden. Entsetzen in allen Augen: Durchs Panoramafenster oben im Macau Tower sieht man ihn hängen. Der Typ kann doch nicht ganz gescheit sein! Dort draußen bläst es wie blöd.

Satte 233 Meter stürzen sich Tollkühne vom Macau Tower in die Tiefe, um eine Handbreit neben dem Südchinesischen Meer zu landen. Einmal Superman sein! Mit 200 Kilometern pro Stunde sausen sie durchs Nichts und beten, dass nicht alle Stricke reißen. Aber die sind schließlich von Profis überprüft. Die Springer sind ja nicht lebensmüde. Keine Glücksritter, die in der Spiel-Hochburg am Perlfluss das letzte Hemd verzockt haben. Der Macau Tower verspricht den längsten Bungee-Jump der Welt. Die Tourismusplaner setzen ebenso auf den Adrenalinkick wie auf Roulette, Blackjack und Baccarat.

Die meisten Besucher kommen, um zu spielen. Dieses Jahr allerdings auch, um zu feiern: zehn Jahre Sonderverwaltungszone – „ein Land, zwei Systeme“. Klar, dass es da Reibungsflächen gibt. Krasser als in so einer Spielhölle kann der Zusammenprall der Ideologien kaum sein.

Das kleine Inselreich bei Hongkong besitzt Freiheiten eines Lebensstils, wie es sie in der Volksrepublik nicht noch einmal gibt. Werte des Alten Europa und Chinas Drang zu hektischer Veränderung münden in immer neue Eventwelten. Nirgends sonst ist das Glücksspiel legal in diesem Land.

Doch was bringt es ein? Zehn Jahre nach der Rückgabe der ehemals portugiesischen Kolonie an China im Jahr 1999 ist Gelegenheit für eine Bilanz: Den zehnten Jahrestag des „Handover“ zelebrieren heißt für die Politik, gigantische Retorten zu beklatschen: Ohne fortgesetzte Landgewinnung ist Macau – einst bedeutender Handelsplatz, später beschaulich und schließlich ärmlich – gar nicht mehr vorstellbar.

Unter chinesischer Regie wurde das „Monte Carlo des Ostens“, wie die Luxushotelketten den Tummelplatz taufen, das größte Spielerparadies der Erde. Las Vegas? Ein Mauerblümchen aus chinesischer Sicht. Macau nennt beeindruckendere, höhere Zahlen.

Das Grand Hotel Lisboa, golden verblendetes Wolkenkratzercasino in Gestalt einer stilisierten Lotosblüte ist Macaus neues Wahrzeichen. Dagegen wirkt das historische Hotel Lisboa, 1970 als Urzelle der Casinohotels errichtet und inzwischen eine Hotellegende, die vollständig unter Denkmalschutz gehört, anrührend nostalgisch. Der pfiffigste Trakt zitiert einen riesigen Vogelkäfig. Man denkt an den Brauch der Einheimischen, Vögel in Parks spazieren zu tragen. Unterdessen turnen Königinnen der Nacht durch die Akrobatik-Show „Zaia“, die erste permanente „Cirque du Soleil“-Produktion in Asien.

Fliegt dadurch Kulturpublikum auf Macau? Als Spielermekka allein kommt die Hafenstadt nicht weiter. Die Finanzkrise stoppt nicht nur den US-Großinvestor Las Vegas Sands. Der sagenhafte Bauboom stößt plötzlich an Grenzen. Ob die riesigen Hotelbaustellen als Ruinen in die Geschichte eingehen wie die stolze, durch Feuer zerstörte São-Paulo-Kirche, die vor rund 400 Jahren das größte Bauwerk der Christenheit im Fernen Osten war und heute Macaus Mahnmal und eine Touristenattraktion zugleich ist?

Der Glücksspielplatz versucht sich in den Gast von morgen hineinzuversetzen. Woher kommt er, was erwartet er? Dass vornehmlich Festlandchinesen in den Casinos ihren Lohn verjubeln, quittierte Peking mit verschärfter Visapolitik. Dafür sollen mehr Europäer das Dorado stürmen und nach einer Partie Poker nicht gleich wieder verduften, gar nach Hongkong, wo mehr los ist.

Museen und Theater entstehen, um Urlauber länger zu binden. Mit der Macau Studio City startet ein Hotelkomplex neuen Typs: das erste asiatische Resort mit integriertem Theater, TV- und Filmstudios. Architektonisch attraktiv ist das großzügige Kulturzentrum mit Ausstellungshallen und Auditorien. Das keck geschwungene Dach erinnert an eine Skischanze. Unweit davon entwarf der chinesische Stararchitekt I. M. Pei das neue, in seiner Art einmalige Wissenschaftsmuseum als dreiteiligen, mit schimmerndem Metall ummantelten Komplex, bestehend aus einem geneigten Kegel, Kuppelbau und Rhombus.

Avantgarde begegnet hier uralten Wurzeln. Macau, vor 450 Jahren erste europäische Enklave in Asien, darf als Sonderverwaltungsgebiet ein Zwitter sein. China light. Der Alltag ist bunt und hat sehr gegensätzliche Gesichter. Hier Klein-Portugal – iberische Küche, Douro-Weine, Barockkirchen, Kopfsteinpflaster –, dort Tai Chi im Freien und getrocknete Tierpenisse in Apotheken.

Die Altstadt gehört zum Unesco-Kulturerbe. Das wuchernde Universum der Megacasinos im US-Stil mit Themenparks und postmodernen Kopien von Baudenkmalen umschlingt sie wie eine Krake. Cotai-Strip heißt die Vergnügungsmeile nach den Inseln Coloane und Taipa, die freilich keine mehr sind, nachdem sie durch Landaufschüttung verbunden wurden.

Dort thront das Casinomonster Venetian: Gambler-Getto de luxe. Auf Eis liegt die Expansion, doch die Kopie von Venedig erscheint ohnedies groß genug. Das mediterran inspirierte Spielerresort ist das größte Casino der Welt. Man verirrt sich leicht. Es handelt sich nicht etwa um einen originalgetreuen Nachbau. Der Campanile steht nicht auf dem Markusplatz, sondern irgendwo draußen vorm Spielbezirk in der Pampa. Dafür flaniert man über die eine oder andere Piazza, die es im echten Venedig gar nicht gibt. Beinahe echter als dort sind dagegen die kostümierten Gondolieri! Wird ein Fotoapparat gezückt, posieren sie galant, schippern Passanten, erschöpft von 350 Geschäften, über die Miniatur des Canal Grande: so weit, so hübsch. Seltsam bedeckt ist nur der künstliche Himmel darüber, es wird einfach nicht hell in diesem Shoppingrevier. Etwa damit die teuren Juwelen in den Auslagen schöner schimmern?

Derweil gilt Macau als eine der engagiertesten Städte Asiens beim Bewahren alter Bausubstanz. Insbesondere die Inseln Coloane und Taipa pflegen die Vergangenheit. Pistaziengrün gestrichen empfangen portugiesische Villen aus der Kolonialzeit Besucher. Anmutig präsentieren sich historische Gässchen. Hier ist Macau ganz bei sich. Dagegen erblüht im Casinohotel Wynn mit Mordstheater andauernd der „Baum des Glücks“, um dann wieder im Parkett zu versinken, das sich über ihm schließt wie eine Seerose am Abend. Bevor das geschieht, werfen die Umstehenden Münzen in den Schlund. Wer bis dahin sein Geld nicht loswurde, lässt nun etwas springen.

Dorothee Baer-Bogenschütz

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