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Sibirien: Das Eis hat viele Muster

Teepausen sind Pflicht: Eine Trekkingtour auf dem zugefrorenen Baikalsee ist eine Herausforderung.

Warum um Himmels willen fährt jemand im Winter an den Baikalsee? „Platz ohne Ende.“ So hatte sich Alexander, 33, Sibirien vorgestellt. Den Piloten hatte die unberührte Natur angezogen, seit er von oben die Weite der Landschaft bewundern konnte. Kreditmanager Martin ist der „Faszination des Ostens“ erlegen, war in Tiflis, Minsk, St. Petersburg und auf der Krim. „Seit ich Filme von Klaus Bednarz über den Baikalsee gesehen habe, wollte ich nach Sibirien.“ Doch als er Kollegen davon erzählte, sagten die: „Ach so, ich dachte, du fährst in Urlaub!“ Auch bei der jungen Stuttgarter Innenarchitektin Ellen kam die Reise „zu Hause nicht gut an“. Ihr Großvater ist in Sibirien gefallen, ihre Mutter war entsetzt, dass die Tochter dorthin eine touristische Reise mache.

„Kurze Pause. Trinken Tee.“ Gennadij spricht nicht viel Deutsch. „Wo und mit wem hätten wir früher Fremdsprachen anwenden können?“, fragt der 59-jährige Russe aus dem hintersten Sibirien. „Kurze Pause. Trinken Tee“ wird zum Lieblingsspruch während der Reise. Zwei-, dreimal am Tag sagt Gennadij diesen Satz, irgendwo auf dem Eis. Wir werfen die Schleppgurte von uns, setzen uns auf die Schlitten, Tamara packt aus. Thermoskannen, Kekse, belegte Brote. Wir haben andauernd Hunger.

Heute geht’s auf die Königsetappe der Tour. Von Polovinnyi nach Scharizschalgai, 29 Kilometer weit. Elf Tage wandert die Gruppe so über das Eis des Baikalsees, zieht Schlitten mit Gepäck, übernachtet in Blockhütten und Gästehäusern. Die russische Begleitmannschaft: Gennadij, seine Frau Tamara, beider Sohn Wlad sowie Übersetzer Dima, Student aus Irkutsk. Wlad trägt einen Rucksack, voll mit Lebensmitteln für alle.

Am Ufer stapeln sich bläuliche Eisschollen aufeinander, in der Ferne, draußen auf dem See, glitzert das Eis hoch aufgeworfen in der Sonne. Jeder sucht nach der besten Spur über den See. Dort hinten, das ist doch eine glänzende Stelle, läuft es da besser? Oder dieser gelbliche Schnee da vorn, ist der hart wie ein Brett?

Es herrschen 15 Grad minus, doch Kälte kümmert uns nicht. Wir schwitzen ohnehin jeden Tag den letzten Teetropfen aus den Rippen. Jeden Morgen spannen wir unser Gepäck auf die Schlitten, schnallen uns Gurte um und ziehen munter los. Wir treten auf den See hinaus. Jeden Morgen ein erhabenes Gefühl. Gut eineinhalb Meter dick friert der Baikalsee im Winter zu. Wir gehen über blankes Eis, das wie eine schwarze Granitplatte vor uns liegt.

Zunächst präsentiert sich der tiefste See der Erde (bis zu 1637 Meter) von seiner schönsten Seite. Trinkwasser für 40 Jahre für die gesamte Weltbevölkerung liegt vor uns, in einer gigantischen Tiefkühltruhe versiegelt. Umrahmt von verschneiten Gebirgen. Schwarz und glasklar ist das Eis, durchzogen von Sprüngen, die sich unter den Füßen zu Mustern verbinden. Mal sehen die 3-D-Streifen aus wie Feenschleier, zart, wie Polarlicht wehend. Mal zeigen sich im Eis eingebackene Schneescheiben wie gefrorene Quallen, und mal sind verzogene Schlieren zu erkennen, wie weiße Karamellgebilde auf teuren Desserts. Dazu der Rhythmus der Reise, eine Percussiongruppe auf Tournee: Die Spikes, mit Gummiriemen unter die Wanderschuhe gezurrt, haken sich bei jedem Schritt einzeln ins Eis. Beim Abrollen des Fußes geben sie einen Ton frei, wie eine sanft gestreichelte Trommel, krtsch, krtsch, krtsch, darunter legt sich das Wischgeräusch des Schlittens, wie das Streichen des Besens auf dem Becken, schsch, schsch, schsch.

Gennadij und Tamara sind vernarrt in den Baikal. Seit den 70er Jahren kommen sie mehrmals im Jahr hierher. Sie arbeiten als Röntgenärzte in der sibirischen Kleinstadt Nischneudinsk. In ihrer Freizeit führen sie Gäste in der Natur.

Ende unserer Teepause. Verschwitzt vom Gehen spüren wir, wie Kälte vom See heraufkriecht. Auf geht’s, zusammenpacken. Wir sind im Süden des Baikalsees unterwegs, die bekannteste Ecke des Gebietes. Anfang des vorigen Jahrhunderts fuhr hier die Transsibirische Eisenbahn entlang, bis später eine schnellere Strecke über die Berge gebaut wurde. In Schumicha hörten wir einen Zug, aber hier ist Sergeijs Banja die Attraktivität. Sergeij Trofimowitsch geht einmal in der Woche in die Banja, die russische Sauna, „für die Gesundheit und für die Seele“. Alles Banja- Wissen werde seit Generationen weitergegeben, „aber nur von Russen“, die vor 300 Jahren in Sibirien einwanderten.

Burjaten und Ewenken, die ursprünglichen Bewohner der Baikalregion, hatten keine Schwitzbäder. Das Wasser des Baikal sei gut für die Banja, sagt der 55-Jährige. Hat sich in den Jahrzehnten das Wasser des Baikalsees verändert? Bedächtig überlegt der kleine, drahtige Mann. Er könne das nicht sagen, meint er schließlich. Es gebe immer mehr Autos in der Umgebung, das werde wohl schon eine Rolle spielen. „Und dann die Papierfabrik ...“

Jeder hier spricht davon. Das alte Zellulose-Kombinat, das nicht einmal sowjetisch-russischen Umweltkriterien standhielt, ließ Vladimir Putin Anfang 2010 wieder in Betrieb nehmen. Das Wasser des Sees sei sehr sauber, habe Putin befunden, erklärt uns im Baikal-Museum in Listwjanka die Führerin. Das Museum stellt einen weißgrauen Stein aus, an dem nur das Schild interessant ist: Putin war mit einem Forschungsteam auf den Grund des Sees getaucht und hatte diesen Stein mit nach oben gebracht. Kurz danach genehmigte er die Wiedereröffnung der Fabrik. Was sagen dazu die Wissenschaftler des Limnologischen Instituts der Universität Irkutsk, die Betreiber des Museums? Die charmante Führerin schaut verbittert. „Sie sind nicht einer Meinung mit dem Ministerpräsidenten“, lautet ihre diplomatische Antwort. Wir gehen weiter über den See, am Ufer gegenüber steht eine Rauchfahne quer in der Luft, die Abgase der Papierfabrik.

„Kurze Pause. Trinken Tee.“ Gennadij hat es schon lange nicht mehr gesagt. Hat der Mann keinen Hunger? Die Kekse der vorigen Pause sind längst verzehrt. Keiner ist hier satt. So weit die Füße tragen. Wo werden wir heute übernachten? Die erste Nacht war überraschend komfortabel gewesen, Doppelzimmer, Elektroheizung, gemütlich. In der Goldgräbersiedlung hatten wir tief geschlafen wie Murmeltiere, in Listwanjka waren wir in einem Apartment. Ein seltsamer Ort, rosa Kitschschlösser neben windschiefen bunten Holzhäusern, moderne Wohnblöcke neben völlig verbarrikadierten Häusern. Wir schliefen immer gut. Und alles war viel sauberer, als wir uns sibirische Hütten vorgestellt hatten. Wie wir uns gegenseitig verschämt eingestehen.

„Kurze Pause. Trinken Tee.“

Wir kommen in Scharizschalgai an, in riesigen Lettern steht der Name auf einer bunten Bretterwand. Steil geht es die Uferböschung hinauf, zum alten Bahnhof der Transsibirischen Eisenbahn. Ellen lässt sich die Tasche tragen.

Wir schlafen gut. Wir können gar nicht anders. Aber wir denken in diesem Raum im Jugendherbergsstil noch kurz vor dem Wegsacken an die Nacht im Goldgräbercamp, der schönsten Nacht auf dieser Reise.

Wer viel Tee trinkt, muss nachts raus. Es ist kalt, sehr sehr kalt. Das Plumpsklo steht natürlich einige Meter entfernt. Schlafanzughose, bloße Füße in den Stiefel. Ist das saukalt. So ein nächtlicher Gang ist furchtbar. Und furchtbar schön auch. Der Mensch strebt nach Bequemlichkeit, das geht einher mit einem Verlust an Intensität. Und an Schönheit. Oben glänzt ein Sternenhimmel, als hätten sämtliche Oligarchenbräute ihre Schmuckkästchen ausgeleert. Zurück in die Hütte. Rein in die Federn.

Drei Uhr nachts. Ein sibirischer Bär tappt schwer über die Veranda. Die Tür geht auf. Der Bär trägt Stirnlampe und sagt: „Entschuldigung – kalt?“ Ja, bibbern zwei Mädchenstimmen. Das Feuer im Ofen ist verloschen. Gennadij verschwindet kurz, kehrt zurück mit einem Stapel Holz und Zweigen. Gleich lodern Flammen, es knistert und leuchtet so schön. Und um 7 Uhr legt er noch einmal Holz nach! So ist es beim Aufstehen mollig warm. Alle späteren Übernachtungen waren mit elektrischen Öfen. Auch Gennadij, der russische Bär, braucht mal Schlaf.

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