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Tibet

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Tibet: Wo Gott Haschisch raucht

Der Kailash ist der heiligste Ort Asiens. Dort wohnt Shiva - und niemand soll hinauf. Umrunden ist erlaubt.

Die Pyramide ist aus Schnee und Eis – und ihr Anblick ist überwältigend. Lobsang, unser tibetischer Begleiter, jubelt den Segensruf „Lha Gya-lo – die Götter mögen siegen“. Dann wirft er sich demütig zu Boden und verharrt lange still. Jigme, der Junge aus Darchen, der am Morgen hilft, die Yaks mit Zelt und Proviant zu beladen, murmelt unablässig Gebete. Dabei schmückt er den Chörten, den von unbekannten Mönchen und Pilgern aus Steinen geschichteten Kultort, sorgsam mit bunten Gebetsfahnen. Im Wind knatternd sollen sie die aufgemalten Segenswünsche zum Gipfel senden.

Am frühen Morgen sind wir vom DiraPuk-Kloster aufgestiegen. Langsam, schwer atmend. Die Luft ist dünn in 5000 Metern Höhe. Das Ziel, die weiße Spitze des Schneedoms, haben wir stets vor Augen. Nach der Eisfeld-Überwindung des Kangkyam-Gletschers, oben auf dem Kamm, ist es so weit: Wir stehen dem sagenumwobenen Kailash direkt gegenüber. Die Tibeter nennen den Berg aus ewigem Eis „Kang Rinpoche“, das Schneejuwel. In vier Religionen gilt er als Thron der Götter, als Nabel der Welt. Verehrt wird der Berg von den Hindus und Buddhisten ebenso wie von den Bönpos, den Anhängern des Bön, der vorbuddhistischen Religion Tibets, und von den 4,4 Millionen Jainas, einer in Indien beheimateten Religionsgemeinschaft. Eine Pilgerreise zu diesem heiligen Berg, so sagen sie, erlöst von den Sünden und bringt sie damit der Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten näher.

Der Kailash oder Kailashi, wie ihn Lobsang zärtlich nennt, ist der heiligste Ort, das spirituelle Zentrum Asiens. Das 6675 Meter hohe Monument aus Eis ist verglichen mit den Achttausendern des Himalayagebirges eher bescheiden, doch in seiner religiösen Bedeutung für Gläubige aus ganz Asien überragt er alle.

Dort, wo Wolken um den Gipfel wabern, thront Shiva, der Herrscher über Tod und Wiedergeburt. Demchok, so nennen ihn die Tibeter. Der „Gütige“ wohnt in einem Palast aus Edelsteinen, meditiert auf einem Tigerfell, raucht Haschisch und regiert die Welt. Kein Bergsteigerteam hat den verzauberten Ort je gesehen. Aus der Sicht der Gläubigen ist es keinem Sterblichen erlaubt, die Wohnstatt des Gottes zu betreten. Reinhold Messner lehnte das pietätlose Angebot der Chinesen ab, als Erster den Kailash besteigen zu dürfen. „Man sollte nicht in Bergstiefeln auf zu Stein gewordenen Göttern herumtrampeln“, sagte der Südtiroler Gipfelsammler. Proteste aus aller Welt hinderten Bergsteigergruppen bisher daran, das Heiligtum zu entweihen.

Die Anfahrt zu jenem Berg ist weit. Von Lhasa aus reisen wir 1300 Kilometer Richtung Westen. Wir haben uns aufgemacht mit Lobsang und dem Fahrer Dhondup im Geländewagen. Unser Ziel ist es, den 53 Kilometer langen Pilgerweg um diesen heiligen Berg zu gehen. Seit mehr als 2000 Jahren schon ist die Kora, die Umrundung des Kailash, für Hindus und Buddhisten eine religiöse Bußübung, zur Tilgung der Sünden und um ein neuer Mensch zu werden.

Saga, 700 Kilometer von Lhasa entfernt, ist der letzte nennenswerte Ort vor der langen Einsamkeit des Changtang, der weiten Hochebene des wilden Westens. Der trostlose Armeeposten mit seinen Kasernen, Karaokebars, Spielhöllen und leichten Mädchen ist für uns die letzte Möglichkeit, um Proviant für das Kailash-Abenteuer zu kaufen. Die Reise ist nicht ohne Risiko. Wer sollte einem bei gesundheitlichen Problemen in dieser dünn besiedelten Region schon helfen? Zudem ist die lange Fahrt auf dem Dach der Welt – mit einer Panne auf rauen Pisten und einem Wetterumschwung ist stets zu rechnen.

Tatsächlich aber ist die Reise auch nach der letzten strengen Kontrolle unserer Papiere vom Glück begünstigt. Andere hingegen trifft es hart, wie etwa jene vier Chinesen, die westlich von Paryang bei der Überquerung des Yarlung Tsangpo die Furt verfehlten. Sie hocken mitten im Fluss auf dem Dach ihres Geländewagens, das Wasser des Tsangpo fließt stetig und kalt über die Polstersitze im Innern ihres Wagens.

Unser tibetischer Fahrer lässt sich nicht erweichen, den Unglücklichen zu helfen. Er sucht zunächst eine geeignete Stelle für die Durchquerung des Flusses – und dann schnell das Weite. Das Mitleid eines tibetischen Buddhisten stößt, wenn es um Chinesen geht, an seine Grenzen. „Sie haben unsere Kultur zerstört, sollen sie doch schwimmen!“

Wir fahren in einer Höhe von durchschnittlich 4500 Metern durch Steinwüsten, zart bewachsene Steppen und Flusstäler. Die Dimensionen des Schneelandes, wie man Tibet auch nennt, sind für einen Europäer überraschend. Die Landschaft ist überwältigend, karg, still und leer. Dort, wo wir es kaum noch vermuten, treffen wir auf Menschen. Das Leben der Nomaden in den trockenen und kalten Hochsteppen ist schwer. Mit ihren Yaks, Schafen und Ziegen durchwandern sie das Land. An Flussläufen stehen ihre Zelte aus Yakhaar, in die wir freundlich eingeladen werden. Getrockneter Dung von Yaks ist das geeignete Brennmaterial in der baum- und strauchlosen Weite, um den Ofen im Zelt der Sippe warm zu halten. Wir gießen unsere Instantnudeln mit heißem Wasser auf, während die Tibeter es vorziehen; an getrocknetem Yakfleisch zu nagen. Als die Nomaden hören, dass wir unterwegs sind zum heiligen Berg, verneigen sie sich mit aneinandergelegten Händen vor unsichtbaren Kräften. Noch hat die Moderne das buddhistische Weltbild der gelassenen, heiteren Menschen nicht ins Wanken gebracht.

Heiter, ja geradezu euphorisch sind die Pilger, die zu Fuß, auf dem Rücken von Pferden oder Yaks unterwegs sind, um dem Thron der Götter ihre Referenz zu erweisen. Ausgangs- und Endpunkt der Kora, wie man die Umrundung einer heiligen Stätte nennt, ist das Dorf Darchen, eine Ansammlung aus tibetischen Häusern und Zelten. Die Pilger wissen, dass sie von den Sünden eines Lebens befreit sind, wenn sie die Kora schaffen. In einer Höhe zwischen 4600 und 5600 Metern ist der Weg eine Strapaze für Mensch und Tier. Die Aussicht auf religiösen Lohn spornt die Gläubigen an.

Unser Yaktreiber ist davon überzeugt, dass auch seine zotteligen Grunzochsen, die unser Gepäck tragen, sich mit der Umrundung des Kailash eine bessere Wiedergeburt erwerben. Er lacht über manchen untrainierten indischen Pilger, der es vorzieht, auf einem Pferd um den Berg zu reiten: „Ein besseres Karma erwirbt auf diese Art höchstens das Pferd, aber nicht der Reiter.“

Unsere Bewunderung gilt den Pilgern, die die 53 Kilometer der Kora gar mit dem Körper „abmessen“. Lhakpa ist einer von ihnen. Die Knie gepolstert mit Stofflappen, die Hände geschützt mit Holzpantinen, rutscht er die Kora schon seit zehn Tagen. Aufstehen, einen Segen zum Himmel senden, auf den Boden gleiten, die Hände nach vorn strecken, aufstehen, einen Schritt nach vorn, einen Segen zum Himmel und so weiter – eine Bußübung über Staub, felsiges Gelände, ja sogar durch eiskalte Bäche. Mindestens drei Wochen, so erzählt er uns, werde er benötigen, bis er die Strecke bewältigt habe, angetrieben von der tiefen Überzeugung, mit dieser Quälerei religiösen Lohn zu sammeln.

Wir benötigen zu Fuß vier Tage. Schon früh im Morgengrauen brechen wir am Dira-Puk-Kloster unser Zelt ab, um die schwierigste Prüfung des Weges zu bestehen. 5636 Meter hoch ist der Dölma La, jener Pass, an dem schon viele scheiterten. Diesen hohen Weg muss man jedoch gehen, um ein neuer Mensch zu werden. Wir wandern gemeinsam mit indischen Saddhus und tibetischen Pilgern in einer Karawane aus Yaks und Pferden dem höchsten Punkt des Pilgerpfades entgegen. Unsere Begleiter machen uns aufmerksam auf Steine mit eingravierten heiligen Formeln und Höhlen, um die sich Legenden ranken. Wir betasten den Fußabdruck Milarepas, der nach einer Legende einst im Wettstreit mit dem Bönpo Naro Bonchung den Kailash für die Buddhisten eroberte. Wir winden uns, wie alle, durch eine enge Felsspalte. Wer hier stecken bleibt, hat zu viele Sünden auf sich geladen.

Am Shivatsal, dem Leichenacker, sterben die Pilger den rituellen Tod. Hier, unterhalb des Passes, lassen sie das alte Ich zurück, indem sie ein Kleidungsstück, eine Haarlocke, einen Zahn oder ein paar Blutstropfen opfern.

Wir folgen den Yaks mehrere hundert Höhenmeter eine schroffe Felsenlandschaft hinauf durch das Bardo des Werdens, wie die Tibeter den Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt nennen. Während die Tiere ungerührt ihre Lasten nach oben schleppen, bleiben wir immer wieder keuchend, nach Luft schnappend stehen. Jeder Schritt wird zur Qual, jedes Foto zu einem irrwitzigen Unternehmen. Unsere Bewunderung gilt den Alten unter den Pilgern, die kräftig einherschreiten und behände auch die steilsten Passagen des Weges nehmen. Dabei drehen sie auch noch unablässig ihre Gebetsmühlen und murmeln die in Tibet allgegenwärtige heilige Formel „Om Mani Padme Hum – Kleinod in der Lotosblüte“, ohne aus der Puste zu geraten.

Unzählige bunte Gebetsfahnen zeigen an, dass wir uns dem Ziel nähern. Jeder, der den Bergsattel betritt, lacht und freut sich, es geschafft zu haben. „Lha Gya-lo, Lha so, so, so“, den Sieg der Götter rufen alle aus, und manche werfen ganze Bündel von bunten Zetteln in die Luft, auf denen Lung-Ta, das Windpferd, abgedruckt ist. Als Symbol für Gesundheit und Glück flattern die Wünsche wie Konfetti vor blauem Himmel. Die Pilger umrunden den mit Opfergaben überhäuften Fels der Tara. Sie gilt als Schutzpatronin Tibets. Man murmelt das Mantra der Tara: „Om Tare Tu Tare Ture So Ha – Göttin Tara, rette mich“. Der Höhepunkt der Pilgerfahrt ist erreicht.

Im Bewusstsein, ein neuer Mensch zu sein, steigen die Gläubigen beschwingt zum Zutulpuk-Kloster hinab, vorbei an den blauen Schmelzseen, in denen einst Götter badeten. Ein letztes Mal halten wir inne, um die Schneekrone des Kailash, den Thron der Götter, zu betrachten und folgen dann den Yaks, die schon weit unten als kleine Flecken ein Schneefeld durchwandern, Darchen entgegen, um den magischen Kreis zu schließen.

Jörg Kersten

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