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Unberührte Natur am Ufer der Warthe.

© Yvette Thormann

Besuch in der Vogelrepublik: Im Revier des Wachtelkönigs

270 Vogelarten leben im Naturpark Warthemündung. Touristen sind rar in der polnischen Region. Das soll sich nun ändern.

Der Präsident ist ein höflicher, zurückhaltender Mann. Doch wenn er über seinen Staat spricht, überkommt ihn eine kindliche Begeisterung. Dann wirkt es, als könne Henryk Radowski Wachstum und Erfolg selber nicht fassen. Etwa 2300 Menschen haben in den vergangenen zehn Jahren die Staatsbürgerschaft angenommen. Von Wirtschaftskrise keine Spur, es gibt keine Schulden, ein negatives Moody’s-Rating droht ebenfalls nicht. Der erste Mann im jungen Staat schaut voll Optimismus in die Zukunft: „Wir haben eine eigene Verfassung, wir geben eigene Pässe aus. Wir prägen unsere eigenen Münzen.“

Henryk Radowski ist der Präsident der „Vogelrepublik“, der Rzeczpospolita Ptasiej, im polnischen Nationalpark Warthemündung. Die Initiative aus dem Dorf Slonsk setzt sich für die Natur und einen sanften Tourismus in der Region ein. Die Mitglieder – Besucher aus aller Welt – unterstützen mit ihren „Passgebühren“ die Vogelrepublik.

Radowski ist in der Gegend geboren und hier in den fünfziger Jahren aufgewachsen. Doch erst 2001, auf einem Spaziergang, öffneten sich ihm die Augen für das Besondere seiner Heimat: „Damals wurde ich mir erstmals der zahllosen Tiere und der ganzen Schönheit des Warthebruchs bewusst.“

Von Slonsk sind es nur wenige Schritte in eines der vogelreichsten Feuchtgebiete Europas. Bei einer kleinen Brücke sitzen Angler. Hinter ihnen erstreckt sich eine weite, zaunlose Wiesenebene mit Silberweiden und Erlen. Eine Herde brauner Kühe grast friedlich neben Pferden. Seidenreiher staken durch überschwemmte Senken. Nur der Wind ist zu hören und die rauen Rufe von Graugänsen.

Im Naturpark leben heute mehr als 270 Vogelarten, außerdem Hermeline, Flussotter und viele seltene Fischarten. So ursprünglich diese Landschaft erscheint, sie ist auch Menschenwerk. Bis ins 18. Jahrhundert erstreckte sich dort, wo die Warthe sich der Oder nähert, eine Auenlandschaft, in der Braunbären, Wölfe und Vielfraße lebten. Friedrich der Große ließ von 1765 bis 1767 das Terrain roden, eindeichen und trockenlegen, um Bauern anzusiedeln. Mit der Kolonisation wandelte sich das Bild des Warthebruchs. Nun ist es ein Biotop.

An einem Fluss zwei Kilometer von Slonsk entfernt steht das 1911 erbaute Schöpfwerk, Denkmal der klassischen Moderne. Dahinter, im einstigen Haus des Pumpenmeisters, empfängt Izabella Engel Logiergäste. Die Forstwissenschaftlerin vermietet Zimmer „ohne Fernseher und ohne Radio, damit sich die Leute ganz auf die Ruhe des Ortes einstellen können“. Vor allem führt sie die Besucher auf Exkursionen mit Gummistiefeln in die Niederung.

Die Städter stehen wie angewurzelt

Papst Johannes Paul II. In Slonsk (Sonnenburg) steht ihm zu Ehren eine Holzskulptur nahe der Johanniterkirche.
Papst Johannes Paul II. In Slonsk (Sonnenburg) steht ihm zu Ehren eine Holzskulptur nahe der Johanniterkirche.

© picture alliance / ZB

Heute haben sich zwei polnische Familien angemeldet. Die Wanderung beginnt im Garten der Engels, wo Weißstörche im Nest sitzen. Weiter geht es auf dem Deich in Richtung Osten. Nur 100 Meter vom Haus hat eine Biberfamilie auf einer überfluteten Wiese ihre Burg gebaut. Aber die Nager lassen sich bestenfalls abends sehen. Immer wieder hält Izabella inne, mal weist sie auf Gänse, mal auf Enten „aus Afrika“. In den Zweigen einer Weide direkt am Wasser hängt das kunstvoll gefertigte Nest einer Beutelmeise.

Aus hohem Gras ertönt ein unverwechselbares Knarzen. Es ist das „Crex-crex“ eines Wachtelkönigs, dessen Verwandte bei Hamburg den Bau einer Autobahn verhindert haben. Das Tier verbirgt sich. Auch Izabella hat den scheuen Vogel oft gehört, jedoch noch nie gesehen.

Auf einer Wiese stehen Kraniche, ganz nah, sehr gut zu beobachten. Die Gäste zücken ihre Ferngläser, flüstern aufgeregt, die Kinder wollen durch das Spektiv schauen. Manche der Vögel fliegen kurz auf, rufen. Die Gruppe wandert weiter. Plötzlich zeigt Izabella auf einen Baumwipfel: „Seeadler!“ Die Städter stehen wie angewurzelt. „So groß“, flüstern sie. Zu beobachten sind noch Nachtigall, Schwäne, allerlei Entenarten. Aber nach gut vier Stunden wirken die Besucher erschöpft. „Bitte, kein anderes Tier mehr“, seufzt einer. Es waren einfach zu viele. „Zur Zeit ist das Bruch voller Vögel“, erklärt Engel. Erst vor kurzem zählten zwei Dresdner Hobbyornithologen an zwei Tagen 105 Vogelarten.

Vor 30 Jahren kam Engel gemeinsam mit ihrem Ehemann aus Warschau nach Slonsk. Mit Radowski und anderen Gleichgesinnten gründete sie die „Gesellschaft der Freunde von Slonsk“, die sich neben dem ökologischen auch dem kulturellen Erbe des ungewöhnlichen Ortes widmet.

Dessen erste schriftliche Dokumente stammen aus dem 13. Jahrhundert, als der Templerorden im damaligen Sonnenburg eine Niederlassung betrieb. Bleibende Spuren hinterließen aber erst die Johanniter, die im 15. Jahrhundert folgten. Der Orden baute die Kirche, dessen Turm in seiner heutigen Gestalt von Karl Friedrich Schinkel stammt. Das „Westminster des Lebuser Landes“ überragt das Bruch weithin und würde sogar einer großen Stadt zur Ehre gereichen.

Von einem dunklen Kapitel der Sonnenburger Geschichte zeugen Mauerreste östlich des Ortes. Im 19. Jahrhundert betrieb der preußische Staat an dieser Stelle ein Gefängnis – in dem auch der Hauptmann von Köpenick zwölf Jahre einsaß. Die Nationalsozialisten funktionierten den Gebäudekomplex 1933 zu einem der ersten Konzentrationslager um. Zu dessen prominenten politischen Häftlingen gehörten der Publizist Carl von Ossietzky und der Schriftsteller Erich Mühsam. Unmittelbar vor dem Eintreffen der heranrückenden Roten Armee, in der Nacht auf den 31. Januar 1945, ermordeten SS-Einheiten mehr als 700 der rund 840 Häftlinge. Als die Sowjetsoldaten am kommenden Tag das verwaiste Zuchthaus aufbrachen, entdeckten sie das Grauen: zahlreiche aufeinandergestapelte Leichen.

Sonnenburg wurde zu Slonsk

In der Nachkriegszeit veränderte sich der Ort entscheidend. Im Zuge des gigantischen Bevölkerungsaustausches waren die deutschen Einwohner geflohen oder vertrieben worden. Ihren Platz nahmen Polen ein, die ihrerseits aus Gebieten kamen, die die Sowjetunion annektiert hatte. Das ehemals 10 000 Einwohner zählende Sonnenburg wurde zu Slonsk. Die polnische Regierung ließ viele Gebäude abtragen – darunter auch das Hospital, um Material für den Wiederaufbau der Hauptstadt Warschau zu gewinnen.

Den größten Verlust seines architektonischen Erbes erlitt Slonsk viel später. Mehr als 300 Jahre lang stand nahe der Kirche das Johanniterschloss. In einer Nacht des Jahres 1975, kurz nach seiner Renovierung, ging der Prachtbau mit dem berühmten Rittersaal in Flammen auf. „Das waren die Deutschen“, raunen einige Alte. Henryk Radowski schüttelt den Kopf, macht eine verstohlene Geste mit der Hand und sagt: „Zappzarapp.“ Er vermutet, dass Diebe die Spuren ihrer Tat mit Feuer vernichten wollten. Gefunden wurden die Brandstifter nie.

Die Schlossruine hat heute einen ganz eigenen, morbiden Reiz. Nur noch die gewaltigen Außenmauern stehen. Doch sie verschwinden allmählich in einem neuen Wald. Das offene Gemäuer mit seinen Rissen und Spalten bietet Staren und Dompfaffen Unterschlupf. Wenn in Mondnächten Fledermäuse durch die Fensterhöhlen flattern und ein Käuzchen ruft, wird’s gespenstisch.

Die Jugendlichen von Slonsk gruseln sich nicht davor. Sie treffen sich in der Dunkelheit auf der winzigen Promenade an der Lenka und schlendern zwischen Kirche und Ruine auf und ab. Einen Jugendclub gibt es nicht. Nur ein paar Läden verkaufen bis spät in die Nacht Energydrinks, Chips und Bier. Überhaupt bietet das 3000-Einwohner-Dorf jungen Leuten wenig Perspektiven. Außer der kleinen Möbelfabrik gibt es nur zwei nennenswerte Arbeitgeber: den Holzpelletshersteller und das Gefängnis. Die meisten fahren zum Arbeiten nach Stettin oder ins nahe Deutschland.

Tourismus spielt in Slonsk bislang kaum eine Rolle. Rafael Radowski ist davon überzeugt, dass sich das bald ändert. Auch er ging als Jugendlicher fort, erst in die nächstgelegene Stadt, dann nach Warschau. Zuletzt arbeitete er als Koch in einem Luxushotel auf Sansibar. Jetzt ist der Sohn von Henryk Radowski mit einem Projekt zurückgekehrt. „Ich werde hier das erste Restaurant mit biologischen Produkten aus der Region eröffnen!“ In den Gärten der Umgebung wachse Gemüse und Obst von hoher Qualität, das Fleisch der Rinder sei „das beste der Welt“, erklärt der 38-Jährige. Im Nachbardorf hat Rafael ein altes Haus gekauft. Im Bauerngarten dahinter will er Kräuter anbauen. Im Nebengebäude sollen Gästezimmer entstehen.

Unterdessen kümmert Henryk sich um das kleine Museum im ehemaligen Schulgebäude neben der Kirche. An historischen Fotografien, Waffeleisen und Röhrenradios fehlen noch Informationsschilder. Überhaupt müsste noch viel getan werden, um die Tagesbesucher mit Unterhaltung und Annehmlichkeiten länger in Slonsk zu halten. Wäre es da nicht naheliegend, sich auch an der Ortsverwaltung aktiv zu beteiligen? Radowski senior überlegt einen Moment und sagt diplomatisch mit einem Lächeln: „Ein Präsident mischt sich nicht in die Lokalpolitik ein.“

Hilmar Schulz

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