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Reise: Blutrote Schatten in der Finsternis

Im Goslarer Rammelsberg ist Geschichte begehbar. Mutige wagen eine Tour durch den 800 Jahre alten „Rathstiefsten Stollen“

Stille. Schweigend überlässt uns Wiebke der Finsternis, mit pochendem Herzen und dem beklemmenden Gefühl von Orientierungslosigkeit. Eben noch hatten wir ihren Berichten von Spukgestalten gelauscht, die einst ruhelos durch die Stollen irrten, von Geistern verstorbener Knappen und tyrannischer Meister, die den Männern das Leben unter Tage zur Hölle machten. So lebhaft müssen diese Eindrücke gewesen sein, dass die Bergleute ihre Beschwerden darüber zu Protokoll gaben und sich weigerten, ohne Begleitung in den Schacht einzufahren. Unsere eigenen Schattenbilder waren im flackernden Licht der Öllampe an den Felswänden zu bedrohlichen Figuren gewachsen. Und jetzt das.

Wir befinden uns am tiefsten Punkt des Roeder-Stollens im Goslarer Rammelsberg, vielleicht 40 oder 50 Meter unter der Erde, in der alten oberen Radstube kurz vor dem Eingang zum Rathstiefsten Stollen. Vier Wagemutige und zwei Grubenführer. Vom „Mundloch“ des Stollens am Herzberger Teich sind wir dem Lauf des Wassers gefolgt, vorbei an tonnenschwerer Bergbau-„Kunst“, hölzernen Rädern, Wellen und Gestängen, die bis ins 19. Jahrhundert mit Wasserkraft das Erz aus den Schächten hinaus befördern halfen.

Schon um 1100 vor Christus soll hier, wie jüngere archäologische Funde belegen, Erz abgebaut worden sein. Mit kurzen Unterbrechungen wurden bis zur Schließung der Anlage 1988 rund 27 Millionen Tonnen Kupfer-, Blei-, Zink- und Silbererze gefördert, in kleinem Umfang wurde sogar Gold gewonnen. Seit 1992 gehört das weltweit älteste Erzbergwerk in Goslar zum Unesco-Weltkulturerbe.

Was wir als schaurige Inszenierung erleben, muss für die Bergleute ein heftiger Schrecken gewesen sein. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war der „Frosch“, eine Art eiserne Wunderlampe, die mit zähem Unschlitt (Rindertalg) oder Rüböl betrieben wurde, die einzige Lichtquelle unter Tage. Oft genügte ein Tropfen Wasser oder ein kräftiger Windzug und ihr spärlicher Schein erstarb. Kaum verwunderlich, dass Spukgeschichten die Runde machten.

Wiebke erlöst uns. Der Lichtkegel ihrer Akkulampe vertreibt die Starre, die uns in den Gliedern steckt. Im Gänsemarsch folgen wir ihr durch die engen Stollen, die an einigen Stellen so niedrig sind, dass wir uns nur in gebückter Haltung bewegen können. Es ist kühl und feucht, von der Decke tropft unablässig Wasser auf unsere Helme, doch die Luft ist überraschend frisch und rein wie an einem klaren Frühlingsmorgen. „Die ‚Bewetterung’, meine Damen und Herren“, erklärt uns Hans, der als Führer unsere Nachhut bildet, „war für die Bergleute überlebenswichtig“. Der 71jährige Bergmann muss es wissen.

Das ausgefeilte Belüftungssystem sicherte nicht nur die Frischluftzufuhr, sondern diente auch als Abzug. Denn vom hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert wurde das äußerst harte, schwefelhaltige Rammelsberger Erz fast ausschließlich mit Hilfe von Feuer gewonnen. Um das Erz zu lösen, entzündete man große Holzstapel unter Tage, deren Hitze tief in das Gestein drang, dort Spannungsrisse verursachte und dicke Brocken aus dem Fels brechen ließ.

Obwohl die Feuer nur am Wochenende gesetzt wurden, klagten die Bergleute über den bestialischen Gestank und die unerträgliche Hitze, die noch bei Schichtbeginn am Montag herrschten. Der dänische Schriftsteller Hans Christian Andersen notierte nach seinem Besuch im Rammelsberg 1831: „Die Luft kam mir sonderbar drückend vor, ich konnte den Bergwerks-Duft riechen, der einige Ähnlichkeit mit dem hat, womit – wie man erzählt – der Teufel einparfümiert, wenn er einen Ort verlässt.“

Fühlten sich einige zeitgenössische Besucher geradewegs in die Hölle versetzt, rühmten andere die Rammelsberger Farbenpracht. Der junge Goethe schwärmte gar von den „geöffneten Schmuckkästlein der Geisterkönigin“. Denn das Feuersetzen begünstige zugleich die Entstehung von schillernden Vitriolen, von glasähnlichen Sulfatablagerungen, die noch heute die Firste, Stöße und Sohlen vieler Stollen bedecken. Gelöst durch einsickerndes Regenwasser kristallisieren die Schwefelverbindungen in gut durchlüfteten Hohlräumen aus und bilden eine bunte Wandverkleidung.

Nirgendwo kann man dieses Schauspiel besser bewundern als im Rathstiefsten Stollen. Schon im 12. Jahrhundert wurde dieser Gang in mühevoller Handarbeit mit Schlägel und Eisen in den Fels getrieben. Er diente als Lösungsstollen, durch den das Grubenwasser, das für den Antrieb der Wasserräder gebraucht wurde, aus dem Berg abfließen konnte. Heute ist er der älteste begehbare Abschnitt im Bergwerk.

Unsere Gummistiefel verursachen schmatzende Geräusche auf den schlammigen Holzplanken. In der klaustrophobischen Enge klingen unsere Stimmen seltsam gedämpft. Wir tauchen ein in eine Traumwelt. Fingerdicke Stalaktiten wachsen von der Decke herab, farbenprächtige Kaskaden schmücken die Wände, erstarrte Adern, die glänzen wie lackiertes Kerzenwachs. Staunend betrachten wir die schwulstigen Gewächse, die im Schein unserer Lampen funkeln: türkisblau, ockerfarben, blutrot schwarz-glänzend oder kalkweiß. Wer lange genug hinschaut, dem erzählen sie Geschichten.

Durch knöcheltiefes Wasser waten wir schließlich nach gut drei Stunden unter Tage der Ausfahrt entgegen. Unter dem Werksgelände führt eine rostige Stahlleiter 40 Meter nach oben. Im gleißenden Tageslicht erwartet uns ein kräftiges Schärperfrühstück mit Gänseschmalz und Harzer Roller – spätestens jetzt sind alle Geister verschwunden.

Ilona Schäkel

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