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Zahlreiche Wasserfälle zählen zu den außergewöhnlichen Attraktionen im Nationalpark Serra do Cipo, rund 100 Kilometer nordöstlich von Belo Horizonte.

© Michael Schmdit

Brasilien: Goldstaub im Haar

In Brasiliens Bundesstaat Minas Gerais auf den Spuren von Eroberern, Sklaven und Glücksrittern.

Von Michael Schmidt

Ein Boot. Mitten im wild wuchernden Regenwald Brasiliens steht es da. Über Kopf. Schwebt scheinbar schwerelos über unseren Köpfen durchs üppige Blattgrün. Was ist das? Ein Fiebertraum? Eine Halluzination? Es ist: eine Installation, "The Mahogany Pavillion (Mobile Architecture No. 1)" von Simon Starling. Wir sind im Inhotim Museum of Contemporary Art. Hier, in diesem tropisch-exotischen Landschaftspark, hat sich der Erz- und Stahlmagnat Bernardo Paz Mitte der 90er Jahre einen Traum erfüllt. Fernab vom Trubel der Zivilisation verwirklicht der studierte Ökonom eines der faszinierendsten Kunstprojekte der Gegenwart. Ein Freilichtmuseum, das herkömmliche Grenzen sprengt und Künstlern einzigartige Bedingungen bietet: "Raum ohne Ende, alle Zeit der Welt, und auch Geld spielt keine Rolle", sagt Eugenia Teixeira, eine Studentin aus Portugal, die sich hier ein bisschen Geld als Führerin verdient.

Das Who is Who der internationalen Kunstwelt kann dazu nicht Nein sagen: In dem 45 Hektar großen Park steht inzwischen eine derart exquisite und stetig wachsende Sammlung zeitgenössischer Kunst von Matthew Barney, Doug Aitken, Olafur Eliasson und anderen, dass Interessierte neuerdings nicht mehr nur zur Biennale nach Venedig fahren, sondern auch über staubige Straßen ins verschnarchte Provinznest Brumadinho am anderen Ende der Welt pilgern, um hier, anderthalb Autostunden von der Millionenmetropole Belo Horizonte entfernt, dem Open-Air-Kunstgenuss zu frönen.

Brasilien, das kann man hier lernen, ist nicht nur Rio und der Zuckerhut, Karneval und Samba, Copacabana und Caipirinha. Brasilien ist viel mehr als Sonne, Strand und Meer. Das fünftgrößte Land der Erde ist ein Land starker Kontraste. Ein Land, in dem wenige in Luxus schwelgen und viele in Elend, Schmutz und Armut leben. Ein Land, das seit seiner Entdeckung durch die Portugiesen vor 500 Jahren einen magischen Reiz auf Fremde ausübt und sich zu einem Schmelztiegel afrikanisch-, europäisch- und indianisch- stämmiger Menschen entwickelt hat. Zusammengehalten allein durch die portugiesische Sprache, die römisch-katholische Religion und König Fußball. Brasilien sei das Land der Zukunft, befand Stefan Zweig schon in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Und das stimmt nach wie vor. Zugleich aber ist Brasilien ein Land mit Geschichte, Kunst und Kultur. Und hier, im Bundesstaat Minas Gerais, wollen wir uns auf die Spuren der Konquistadoren, Sklaven, Goldgräber und Glücksritter begeben.

Belo Horizonte, ein Dschungel aus Hochhäusern 850 Meter über Normalnull, ist nicht besonders hübsch. Hauptattraktion ist Pampulha: In den 40er Jahren beauftragte der damalige Bürgermeister und spätere Präsident Juscelino Kubitschek den noch ziemlich unbekannten deutschen Architekten Oscar Niemeyer, der 20 Jahre später Brasiliens Hauptstadt entwerfen sollte, mit der Gestaltung eines Wohnparks. An der 18 Kilometer langen Uferpromenade rund um einen künstlichen See entstanden Bauwerke, die ihren Schöpfer bald über Brasilien hinaus bekannt machten. Der Glanzpunkt ist die Igreja de Sao Francisco de Assis, eine Kirche, die nach der Einweihung 1943 zunächst 14 Jahre geschlossen blieb, weil die Kirchenoberen in dem Bauwerk ein Symbol des Kommunismus sahen: Die Linien von Glockenturm und Fassade erinnerten allzu sehr an Hammer und Sichel, hieß es. Von Pampulha abgesehen ist Belo Horizonte vor allem Drehkreuz und Ausgangspunkt für eine Reise in die Geschichte des brasilianischen Riesenreiches.

Die Region gilt als die Wiege der hiesigen Kultur. Minas Gerais war im 18. Jahrhundert Schauplatz eines Goldrauschs ohnegleichen und außerordentlich wohlhabend. Heute ist es nach Sao Paulo die zweitwichtigste Industrieregion des Landes. Man sieht es beim Blick aus dem rumpelnden Minibus: hier eine verschwenderisch üppige Natur, dort eine rücksichtslos raubbauende Industrie, klaffende Abraumhalden und Baggerschaufeln, die sich durchs Gelände fressen, immer und immer noch auf der Suche nach Gold, Silber und Edelsteinen aller Art. Jenem Stoff also, aus dem auch die Träume der Söldnertruppen waren, die 1693 in der Nähe der heutigen Stadt Mariana erstmals auf die kostbaren Bodenschätze stießen. Minas Gerais, das einzige Bundesland im Südosten ohne direkten Zugang zum Meer, wurde besiedelt, erschlossen, kolonialisiert. Die portugiesische Krone schöpfte den Löwenanteil des Reichtums ab. Sklaven wie Minenarbeiter arbeiteten und lebten unter furchtbaren Bedingungen. Wer mag, kann sich in den kilometerlangen Stollen der Mina de Ouro da Passagem, unweit von Mariana, einen Eindruck davon verschaffen: Die älteste Mine Brasiliens aus dem Jahr 1719, die zugleich eine der größten der Welt ist, kann seit ihrer Stilllegung 1985 in kleinen Schienentransportwagen besichtigt werden.

Nicht wenige Sklavenarbeiter sammelten damals den Goldstaub in ihren Haaren und schmuggelten ihn aus den Minen, um sich davon die Freiheit zu erkaufen - oder eine Kirche zu bauen. So wurde der Grundstein gelegt für jenes barocke Freiluftmuseum unter Brasiliens Himmel, das heute zum Unesco-Weltkulturerbe gehört. Die Barockkirchen und -städte von Mariana, Congonhas, Ouro Petro und Tiradentes, Ausfluss des Reichtums wie der Ausbeutung, sind an architektonischer Pracht kaum zu überbieten: zeitlos schöne Schmuckkästchen, wie man sie eher in Bayerns Alpenrand erwarten würde, die zu den kunsthistorisch interessantesten Reisezielen Brasiliens gehören. Und sie alle sind fast ausnahmslos mit dem Namen des "brasilianischen Michelangelo" verbunden: Antonio Francisco Lisboa (1730 bis 1814), Baumeister und Bildhauer, der wegen einer schweren Lepra-Erkrankung Aleijadinho, Krüppelchen, genannt wurde. Zu den berühmtesten Werken des unermüdlich Schaffenden zählen die Kirche des heiligen Franziskus von Assisi in Ouro Preto und die gleichnamige Kirche in São João del Rei.

Zeit seines Lebens war er in Ouro Petro zu Hause, wo sich das reichhaltigste, homogenste und kompletteste Ensemble barocker Architektur und Kirchenkunst der Welt erhalten hat. Steile Gassen mit abgerundetem Kopfsteinpflaster, koloniale Herrenhäuser mit schmiedeeisernen Balkongeländern und reich verzierten Fassaden machen es zu einer einzigartigen Schönheit.

Charmant, hübsch, verkehrsberuhigt, gilt Ouro Preto als besterhaltenes Städtchen von ganz Minas. Im Hintergrund liegen die Hügel und Wälder der Serra Sao Jose, im Zentrum warten Pferdekutschen ungeduldig auf Kunden, am Wochenende gehen Bahn-Nostalgiker auf Zeitreise und schnaufen mit der Maria Fumaca, einer betagten Dampflok, über die alten Gleise ins nächstgelegene Örtchen.

Wer einfach zur Abwechslung ein bisschen Action sucht, dem sei die Serra do Cipo ans Sportlerherz gelegt. Der Nationalpark lockt mit der natürlichen Schönheit von Canyons, Flussläufen und Felszinnen, zum Kanufahren, Wandern, Klettern. Und mit den Cipoeiros, den Rangern der Serra do Cipó, brausen wir im Jeep über die mal brettharten, mal schlammig aufgeweichten rotsandigen Pisten. Leonardo, der Fahrer, führt uns zur Abkühlung zu einem der zahlreichen Seen unter einem der bis zu 270 Meter hohen Wasserfälle in der Serra, anschließend bestaunen wir nach kurzem Fußmarsch die ältesten Wandmalereien Brasiliens, die auf 12.000 vor Christus datiert werden.

So anders kann Brasilien sein. Nur bedenke man - ob das Natur-Kunst-Spektakel von Inhotim, die Barockstädtchen oder der Nationalpark, nichts davon lässt sich mal eben kurz nebenbei besuchen. Zu groß sind die Entfernungen, zu schlecht die Straßen, zu mangelhaft ausgebaut der öffentliche Verkehr. Wer allerdings die Mühe nicht scheut und sich auf den Weg macht, der wird reichlich belohnt.

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