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Sao Paulo

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Brasilien: Magnet des Südens

Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt, ein stinkender, hässlicher Moloch, zu voll, zu laut, zu gefährlich. Und doch sind die Menschen hier so freundlich wie nirgendwo sonst – und sie lieben ihre Stadt.

Man kann dem Monster tief in die Augen blicken. Wie Maria Domingas Lopes Nascimento in ihrer dünnwandigen Wohnung im sechstens Stock eines besetzten Gebäudes im Zentrum der Stadt. Es gibt aber auch tausend Gründe, das Monster zu verfluchen: ein Qualle ohne Halt und Orientierung, 100 km Stadt von Osten nach Western, 80 km Stadt von Norden nach Süden, 20,5 Millionen Bewohner, 6,1 Millionen Autos, pro Jahr 56 Morde auf 100.000 Einwohner. Es reicht vielleicht auch, wenn man aus Versehen in einen der Flüsse fällt, biologisch tot, gespeist von den Abwässerkanälen, voller Schwermetalle und Bakterien. Eine sensible Haut könnte auch an einem Asthmaanfall ersticken, ausgelöst durch die Dunstwolke aus Feinstaub, Schwefeldioxid, Ozon, Stickstoffoxid, die wie ein böser Schatten über Sao Paulo schwebt, drittgrößte Metropole der Welt.

Man kann das Monster auch mögen. Wie die Psychologin Astrid Maria Kramr, die im größten Wohnhaus der Welt zu Hause ist, 1956 vom brasilianischen Architekten Oskar Niemeyer schwungvoll ins Zentrum gesetzt. Oder wie Julio Landmann in seiner Villa auf einem waldigen Hügel, von Mauern abgeschirmt.

Es gibt tausend Gründe, das Monster zu hassen, das empfindungslos die Spuren der Geschichte auslöscht, immer nur vorwärtsschleimt, protzige Zentren aus Glas und Stahl errichtet, neues Elend anzieht, unbarmherzig alle Gegensätze abbildet, eine perfekte, sich ständig erneuernde Interpretation der globalisierten Welt. Aber Domingas Lopez, 38, obdachlose Mutter von zehn Kindern, hasst es nicht, Astrid Maria Kramr hasst es nicht, und der Industrielle Julio Landmann, schon entführt und misshandelt, könnte sich nicht vorstellen, anderswo zu leben als in Sao Paulo. Man kann dieses Monster der Grausamkeit und Ungerechtigkeit bezichtigen. Aber wenn man es anlächelt, lächelt es zurück.

Die Stadt hat 62 Kulturen verschmolzen, es gibt ein Viertel, in dem Juden und Araber friedlich nebeneinander wohnen. Jede Minute produziert die Stadt 720 Pizzas und 278 Sushis. 63 Prozent aller multinationalen Gesellschaften haben einen Sitz in der Metropole, für das große Business das Tor zu Lateinamerika. Das kleine organisiert sich in 240.000 Geschäften, 72 Shopping-Centern, 26 Universitäten, 12 500 Restaurants, 124 Museen.

Die ganze Welt ist in Sao Paulo zu Hause

Ginge es nur um Dynamik und den kosmopolitischen Charakter, sagt Alfredo Cotait, Erster Sekretär für Internationale Beziehungen, stünde Sao Paulo längst zusammen mit New York an der Spitze der Global Cities. Denn die ganze Welt ist in Sao Paulo zu Hause, und deshalb ist es so leicht, hier Geschäfte zu machen.

Und welches sind die Probleme von Sao Paulo, Senhor Cotait?

Das sind die Probleme, die alle kennen: Verkehr, Luftverschmutzung, Gewalt.

Und was tut die Stadt, um die Probleme zu lösen?

300 Jahre lang war Sao Paulo ein vergessenes Klosterdorf auf einer Hochebene im Landesinneren. 1867 wurde die Eisenbahnlinie zum Hafen von Santos gebaut. Das war die zweite Geburt Sao Paulos, über die Bahn wurde der Kaffee aus dem Hinterland transportiert, über die Bahn fanden die Immigranten den Weg ins weniger heiße Klima auf 700 Meter Höhe. 1885 zählte die Stadt 30.000 Einwohner, 20 Jahre später 300.000, seitdem hat sich die Stadt alle 14 Jahre verdoppelt: Weltrekord. Es waren hauptsächlich italienische Einwanderer, als Kaffeepflücker gekommen, die die Stadt industrialisierten. Ihr Mächtigster, Franzisco Matarazzo, ließ 1935 im historischen Zentrum einen 16-stöckigen Palast hinstellen, mit Säulen und Quadern den faschistischen Vorbildern der Heimat abgeguckt.

In diesem Gebäude sitzt heute die Präfektur, und hier, im siebten Stock, zuckt Alfredo Cotait zusammen, überrascht von der Kühnheit der Frage, kippt er fast vom Stuhl, seufzt, rückt die Krawatte zurecht und fleht um Gnade: Die Stadt produziert zehn Prozent des nationalen Bruttosozialprodukts, aber von den Steuern gehen 65 Prozent nach Brasilia, 25 Prozent gehen an den Staat Sao Paulo, für die Gemeinden bleibt der kleine Rest. Und wenn wir heute, fährt er fort, ein Viertel mit 500.000 Einwohnern mit Schulen und Spitälern erschließen, dann ziehen sofort 200.000 Leute zusätzlich hin. Und dann sagt er leise: Wenn es nach mir ginge, würde ich die Hälfte der Stadt niederreißen und neu aufbauen. Dann schweigt er und seufzt erneut. Aber wir sind eben nicht Schanghai, bei uns wird der Privatbesitz respektiert.

Sao Paulo wuchs wie ein pubertierender Jugendlicher, das Gehirn unfähig, alle Bewegungen zu koordinieren. In 40 Jahren schloss die Stadt 14 Millionen Menschen an die Wasserversorgung an, keine schlechte Leistung, aber längst nicht ausreichend, um die Grundbedürfnisse aller Bewohner zu garantieren. Sao Paulo, ohne Halt und Orientierung, ist auch ohne Charakter und selbst ohne einen Chronisten, der fähig wäre, die Veränderungen zu beschreiben. Dafür gibt es über 100 Quartierzeitungen und unzählige Universitätsprofessoren, die unzählige Studien veröffentlichen. Eine besagt, dass die Metropole schon ihr eigenes Klima schafft, Hitzeinseln und vermehrte Hagelschläge. Sao Paulo ist multipolar und unentwirrbar, und nur im Sozialen scharf in drei Kreise getrennt: die Benützer der „global city“, die im Rhythmus der internationalen Märkte atmen, die Dienstleistungsindustrie, die im Umfeld entstanden ist, und die informellen Arbeiter, die ihr Plätzchen suchen im Meer der Verlockungen und Gelegenheiten.

800.000 Familien in prekären Unterkünften

Alle verfallen dem Monster und seinen Energiebahnen, die den Bewohnern das Gefühl geben, zum glühenden Teil des Lebens zu gehören auf diesem Planeten. Deshalb hauchen alle, die es täglich füttern und größer werden lassen, dem Monster auch eine Seele ein. Als wäre die zivilisatorische Kraft der Hölle stärker als die des Himmels, als löste erst die Nähe zum Abgrund die tiefsten Regungen der Menschlichkeit aus. Kein Autofahrer hupt noch in Sao Paulo. Alle haben eingesehen, dass es sinnlos ist. Nirgendwo isst man so gut, nirgendwo wird man so freundlich bedient wie in dieser Stadt, die so wenig Grund hat, auf ihre Schönheit eingebildet zu sein. Nirgendwo kann man angenehmere Überraschungen erleben als hier, wo man zu ersticken droht, bis man die kleinen Oasen entdeckt; Gartenstädte, von den Engländern errichtet, Dörfer in mittelständischen Vierteln, wo so wenig gemordet wird wie in Europa, Parkanlagen und begrünte Straßen, Theater, Kinos, große und kleine Bibliotheken wie die an der Straße Prestes Maia, Hausnummer 911, 15.000 Bücher, aus dem Abfall erobert von den Straßenputzern und Straßenhändlern, die das Haus seit vier Jahren besetzt halten.

Hier, im sechsten Stock, lebt Domingas Lopez, 40-jährig, Mutter von neun Kindern, Achilles, Athenas und Archimedes heißen die jüngsten. Domingas reiste mit 16 Jahren 2400 Kilometer aus dem Norden nach Sao Paulo, um die Kinder der Tante zu hüten. Aber die Tante vergaß ihr Versprechen, und bald hatte Domingas ihre eigenen Kinder, zuerst zwei Mädchen, die sie zurück zu ihrer Mutter schickte und seit 20 Jahren nicht gesehen hat, dann einige weitere. Sie lebte am Rand der Stadt, arbeitete in den Häusern der Reichen, und heute schämt sie sich, wenn sie daran denkt, wie sie die Kinder ohne Essen in der Hütte einschloss, wenn sie zur Arbeit ging. Die Älteste, 15-jährig, wurde schwanger von einem Drogenhändler, Domingas floh mit ihren Kindern ins Zentrum, und hier veränderte sich ihr Leben. Sie wurde Teil der Bewegung.

Es gibt in Sao Paulo 800.000 Familien, die in prekären Unterkünften hausen, und es gibt fünf Obdachlosenvereinigungen, die mit Hausbesetzungen und Protestaktionen auf ihre Situation aufmerksam machen. Domingas wurde Mitglied der „Bewegung für Unterkünfte im Zentrum“, und sie gehörte mit ihren Kindern zu den 468 Familien, die im Jahr 2003 eine ehemalige Textilfabrik an der ehemaligen Prachtstraße Prestes Maia besetzten, die 16 Jahren leer stand: Zuerst hatte die Industrie und danach die Oberschicht die Innenstadt aufgegeben.

Dünne Wände trennen die Familien, die den sechsten Stock miteinander teilen und wo Domingas für Ordnung sorgt; seit sie Strafen verteilt, wird der Putzplan eingehalten. In den Nächten, in denen sie die Haustür hütete, lernte sie ihren Mann kennen, Lamartine. Er verkauft an einer Straßenkreuzung Wasser, wenn es heiß ist, und Schokolade, wenn es kalt ist. Ein Gaukler des Rotlichts, wie er sagt. Lamartine liest nicht nur, was ihm in die Hände fällt, er ist auch ein verkappter Poet, und in den Nächten im verschmierten Treppenhaus der alten Fabrik führte er Domingas durch die griechische Mythologie, und wenn sie sich beklagte, dann tröstete er sie mit Gilberto Freyre: Die Ungerechtigkeit fällt nicht vom Baum, sie wird vererbt, Sao Paulo trägt nicht die Schuld, sagte er ihr, und dann kamen Achilles, Athenas und Archimedes zur Welt, und Preses Maia 911 wurde ihre Heimat.

19-mal hat ein Richter den Polizeieinsatz verfügt, 19-mal haben sich die Bewohner gerettet. Dann kam ein vernünftiges Angebot der Präfektur, sie will den Familien 1600 Reais zahlen, vier Monatsmieten, und ihnen danach eine Wohnung in der Nähe zur Verfügung stellen. So erzählt Domingas, ein Kind schläft am Boden, eines hat sie an der Brust, drei tunken Brote in ihre Milchtassen, zwei gucken Fernsehen, die Gasflasche steht unter dem Küchentisch, die wackligen Möbel, aus Abfallgruben gerettet, sind mit Kleidern und Büchern übersät. Und in diesem Reich, 32 Quadratmeter für zehn Leute, sitzt Domingas lächelnd, dem Schmerz entrückt wie die Göttin eines alten Volkes, und möchte nicht mehr weg aus der Stadt, die ihr nach 15 Jahren des Wartens endlich zugelächelt hat.

Ich habe gelernt zu überleben, sagt sie. Hier habe ich wunderbare Menschen getroffen. Hier sehen die jüngeren Kinder Dinge, die meine beiden Ältesten nie gesehen habe. Wenn Gott es bloß erlaubte, sagt sie, ohne Zorn und Hass, dass ich noch einmal meine Familie wiedertreffe im Norden. Und dann macht sie Kaffee. Das Monster hat eine Seele, und das sind die Menschen, die es bewohnen.

Der Dschungel lauert an jeder Straßenecke

Julio Landmann lebt im Condominium Chacara Flora, 20 Minuten vom Zentrum entfernt oder zwei Stunden, je nach Verkehrslage. Seine Villa ist umgeben von 100-jährigen Baumriesen, die Siedlung ist geschützt von Mauern, Alarmanlage und Privatpolizei, ein kleines Paradies auf einem Hügel im Süden der Stadt. Landmann ist Chemiker, die Familie seines Vaters war in den 30er Jahren aus Nürnberg geflohen, blieb im Biergeschäft, beliefert heute die größten Brauereien Brasiliens mit Malz. Julio Landmann, Mitte 50, war lange Präsident der Biennale von Sao Paulo, einer der größten Kunstausstellungen der Welt. Manchmal träumt er von seiner Kindheit, als er mit dem Fahrrad zum Einkaufen und mit dem Bus zur Schule fuhr. Eine Freiheit, von der seine Kinder nur träumen können. Er hat sie nach New York geschickt, zum Studieren, nach Berlin, aber sie kamen zurück. Süchtig nach dem Rhythmus der Stadt, für den der Tag nie genügend Stunden hat. Ein Dienstmädchen tischt Kaffee auf, Haarnetz über dem Kopf.

Zwei Wochen, überlegt Julio Landmann, zwei Wochen halte ich es vielleicht aus in einem ruhigen Städtchen auf dem Land, aber dann gebe ich mir eine Kugel. Sao Paulo ist eine verrückte Stadt, und man wird ein Teil ihrer Verrücktheit. So viele Konzerte, so viele Ausstellungen, so viel Kultur. Und so viele Sitzungen, bei denen man das Gefühl hat, man könne etwas bewegen. Seine Frau, Psychologin, therapiert gratis in einer Favela. Julio Landmann versucht, Flussufer und Strände im Staat Sao Paulo vor neuen Ansiedlungen zu retten. Er unterstützt Programme, die das Kunstverständnis in den Vierteln der Armen fördern wollen.

Einmal, erzählt er, wurde er entführt, drei Stunden in den Händen des Banditen, die Pistole am Kopf. Er kam davon, und fast noch mehr als der Überfall erschütterte ihn die Brutalität, mit der die Polizei den Mann behandelte. Der Dschungel lauert an jeder Straßenecke, und wenn eines seiner Kinder nachts unterwegs ist, schläft Julio Landmann schlecht. Das ist der Preis von Sao Paulo, sagt er, der Preis dafür, am Herzschlag der Welt zu leben.

Es ist ein warmer Tag in Sao Paulo. In den Fußgängerzonen rufen Marktschreier wie auf einem mittelalterlichen Dorfplatz freie Stellen aus: Elektriker, Hausmeister. Das Edificio Copan ist ganz in der Nähe, größtes Wohnhaus der Welt, 1156 Wohnungen, von Brasiliens berühmtem Architekten Oscar Niemeyer gebaut, als Sao Paulo noch berühmt war für seine Eleganz. Hier, im fünften Stock, wohnt Astrid Kramr, 68-jährig, die Familie kam vor vier Generationen aus Dänemark, ihr Großvater hat die erste Badewanne nach Brasilien importiert. Sie ist Psychologin, arbeitete für große Unternehmen, schlichtete Konflikte, und nie konnte sie sich vorstellen, anderswo zu leben als in Sao Paulo.

Weshalb sind die Leute so freundlich in Sao Paulo, Frau Kramr?

Alle Leute hier waren einmal Fremde. In dieser Situation empfiehlt es sich, freundlich zu sein. Der andere könnte etwas haben, was man selber braucht.

Wie hält man das Leben aus in einem Monster von 20 Millionen Einwohnern?

Man braucht die Fähigkeit, sich abzufinden mit Gegebenheiten, die man nicht verändern kann. Im Stau stehen ist ein Teil des Lebens. Aber wer in all dem Chaos weiß, wer er ist und was er will, der wird rasch heimisch in Sao Paulo.

Ist Sao Paulo denn keine gewalttätige Stadt?

Je mehr man hat, desto mehr muss man sich schützen. Je weniger man hat, desto mehr muss man sich wehren. Die Reichen nehmen sich, was sie wollen. Aus Verzweiflung holen sich die Armen das, von dem sie glauben, dass es ihnen zustehe. Dazwischen ist der Mittelstand; das sind die Einzigen, die pünktlich die Steuern bezahlen.

Wie erklären Sie Sao Paulo einem Fremden?

Sao Paulo gibt es nicht. Es gibt ein paar tausend Dörfer in einer riesigen Ansammlung von Häusern und Straßen. Die Dörfer haben ihren eigenen Charakter, und sie sind nicht verschlossen und individualistisch wie europäische Dörfer. In diesen Dörfern besucht man sich und schaut zueinander. Hier hat man seine Beziehungen. Hier ist man nicht allein.

Und das ist es schließlich, was man an Sao Paulo liebt.

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