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China: Die Große Mauer als Kopie

Datong im Norden Chinas ist eine Kohlestadt. Historische Bauten und Kulturschätze verfielen. Nun baut man Altes neu – prächtiger, als es je war.

Von David Ensikat

Man kehrt von einer Chinareise heim und alle um einen herum wissen ja, China ist ein großes Land. Sie fragen: „Was von China hast du denn gesehen?“

„Peking und die große Mauer … “

„Ah! Peking! Die Mauer! War bestimmt gut, oder?“

„Ja. Groß vor allem. Und in Datong war ich noch.“

„Ah. Datong. Datong, warte mal. Kennt man das? Datong?“

Datong kennt man nicht, Datong ist eine eher kleine Stadt, sechs Zugstunden von Peking entfernt. Eine halbe Million Menschen leben dort, mehr nicht. Die Stadt lebt von der Kohle, sie ist schmutzig, hässlich. Es gibt hier neue, hohe Häuser und die Luft ist schlecht – darin jedenfalls ähnelt das kleine Datong dem großen Peking und vielen anderen Städten Chinas.

„Und warum fährt man nach Datong?“

„Wegen der Buddha-Grotten, die sie dort haben. Und dann gibt es in der Nähe noch ein Kloster, das an einem Berg hängt und eigentlich runterfallen müsste. Beides ziemlich wichtig und berühmt.“

So könnte man es sagen, und das sind wohl auch die Gründe, weshalb Touristen nach Datong fahren. Viele Touristen sind es nicht, westliche Gesichter jedenfalls sieht man in der Stadt kaum.

Zu den Buddhas und dem Kloster später mehr, jetzt erstmal Datong. Immerhin kann der Datong-Reisende stolz sagen, er habe sich jenseits der Touristenpfade aufgehalten – sehr zum Kummer des Herrn Zhang. Er ist für den Fremdenverkehr in der Region zuständig, und er unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von den Fremdenverkehrszuständigen im Rest der Welt. Er meint: Dem Tourismus gehört die Zukunft, selbst in einer Kohlestadt in Nordchina. Denn eines Tages wird dort der Kohlevorrat aufgebraucht sein. Doch die große Geschichte von Datong wird bleiben, so groß, dass einem Europäer schwindlig werden kann. Der Tourist jedoch ist seinem Wesen nach an Oberflächen interessiert, er sagt: Geschichte gern, aber bitte sichtbar. Das weiß Herr Zhang, und er weiß, was in Datong zu tun ist: die Geschichte sichtbar machen.

Datong muss einst voll gewesen sein mit sichtbarer Geschichte, aber das ist viele Jahre her. Vor 1500 Jahren beherrschten von hier aus die Kaiser eines Nomadenvolkes, Wei genannt, die Hälfte Chinas. Damals hieß die Stadt noch Pingcheng. Viel später, in der Ming-Zeit, war die Stadt ein wichtiger Grenzposten. Deshalb gab es eine riesige Stadtmauer, im Mauerbauen waren die Chinesen ja mal gut. Inzwischen weiß man, dass so eine Mauer, wenn man sie zur Verteidigung nicht mehr braucht, zwar im Wege steht, aber auch den Touristen gut gefällt. Deshalb hat die Stadtregierung von Datong beschlossen, einen großen Teil der Datong-Mauer wiederaufzubauen, größer, prächtiger womöglich, als sie je gewesen ist, mitten in der Stadt. Man muss schließlich auch nicht denken, dass jene Stücke der großen chinesischen Mauer, auf denen die Leute gegen Geld langgehen dürfen, nicht längst neu und fußfreundlich hergerichtet wurden.

In der Mitte von Datong befinden sich zwei alte buddhistische Klöster, Huayang genannt. In dem einen gibt es noch den einen oder anderen Mönch, es untersteht dem staatlichen Religionsamt. Das andere dient der Unterbringung kultureller Reste und steht unter der Obhut der staatlichen Kulturverwaltung. Im zentralen Bau stehen imposante golden-bunte Holzfiguren hinter Gittern, ein Buddha in der Mitte, an den Seiten finster dreinschauende Gestalten, eine Art Himmelswächter. Warum liegt so dicker Staub auf den Figuren? Könnte man sie nicht hin und wieder abwedeln? Die Frau von der Klosterverwaltung sagt, es handele sich um sehr alten Staub, den zu entfernen sei sehr teuer. Als sie in eine andere Richtung schaut, langt man kurz durchs Gitter, berührt sacht einen Götterschuh – und hat prompt eine dicke historische Staubschicht am Finger. So schwer geht die gar nicht ab.

Gleich neben dem Kloster befindet sich eine große Baustelle, auf der nicht wie auf anderen Baustellen geschweißt und geschraubt wird. Hier hämmern und sägen sie. Ein Holzbau entsteht, eine neue große Klosterhalle – nicht zum Beten, sondern zum Anschauen. Das Verhältnis der Chinesen zu den alten Dingen ist offensichtlich ziemlich anders als das unsere: Sie machen die alten Dinge nicht sauber, sondern neu, ganz neu. Nicht das Staubwischen hat hier Tradition, sondern das Wegreißen und Neuaufbauen. Warum sollen sie sich nach unseren Vorstellungen richten? Wegen der Touristen? Tourismus in China ist zuallererst chinesischer Tourismus. Und chinesische Touristen bevorzugen möglicherweise die neu hergerichtete Pracht, wenn die viel prächtiger ist als die alte.

Außer unserer kleinen deutschen Gruppe ist eine chinesische im Kloster unterwegs: 20 junge buddhistische Nonnen mit kahlrasierten Köpfen und grauen Mänteln, vorneweg eine Äbtissin mit roter Fahne in der Hand. Die Novizinnen sind vergnügt, einige telefonieren mit ihren Handys, andere machen Fotos damit.

Zehn Milliarden Yuan will Datong in den kommenden Jahren für den Neubau seiner Altbauten ausgeben, etwas mehr als eine Milliarde Euro. Dafür werden auch Menschen umgesiedelt, die in unhistorischen Häusern auf historischem Grund leben.

Zu den großen, echt alten Attraktionen. Ein paar Kilometer außerhalb der Stadt, befinden sich die 53 Yungang-Grotten mit den 51 000 Statuen, vor allem Buddhas, klein wie Coladosen und groß wie Hochhäuser. Man entsteigt dem Bus und durchquert eine Allee mit Einkaufsständen, an welchen angeboten wird, was Chinareisende gern kaufen: Buddhafiguren neben solchen des großen Vorsitzenden Mao; Steintafeln mit eingeritzten chinesischen Weisheiten; Coca Cola und ein Meter lange Räucherstäbe; kleine Panzer und Kanonen, liebevoll zusammengelötet aus glänzenden Patronenhülsen.

Im Rücken steht ein Kohlebergwerk, vor uns sind die Höhlen. Die Wei-Kaiser ließen sie im fünften Jahrhundert neben ihrer Hauptstadt anlegen, um dem Volk zu zeigen, wie ernst sie es mit der neuen Staatsreligion Buddhismus meinten. Der kam aus Indien, und in den Darstellungen der Grotten ist gut sichtbar, wie er alten chinesischen Geisterglaube und Daoismus in sich aufnahm und volkstümlicher wurde: Während die älteren Figuren noch entrückt, unnahbar erscheinen, sind die neueren bunter, bewegter, menschlicher. Natürlich beeindruckt die schiere Masse an Statuen, die sie in den Sandstein gehauen haben. Doch erst mit einem kenntnisreichen Fremdenführer erschließen sich die Hintergründe: Welche Buddhas etwa nach dem Ebenbild der Wei-Herrscher gestaltet sind, wo lange Nasen von den indischen Ursprüngen künden, wo sich Darstellungen aus dem sorglosen Prinzenleben des Siddhartha Gautama finden, der dann Buddha wurde.

Ebenfalls vor 1500 Jahren haben die Nordchinesen 80 Kilometer von Datong entfernt ein Kloster an einer steilen Bergwand befestigt, das sie folglich Xuankongsi nannten, „hängendes Kloster“. Die Wand ist 100 Meter hoch, das Kloster hängt auf halber Höhe und wirkt ganz winzig, wenn man es von der Straße sieht. Mönche leben hier nicht – wie auch, sie hätten keine Ruhe. Die vielen Besucher, fast nur Chinesen, werden auf einer Art Rundweg an den 40 Räumen entlanggeschleust, die Holzstufen knarren, die Geländer sind niedrig, Schilder warnen: „Safty first“. Keine Sache für Menschen mit Höhenangst oder Misstrauen gegenüber der Haltbarkeit tausendjährigen Holzes. Sehr hübsch: die „Hall of three religions“, ein Raum, vor dem es oft einen Stau gibt, weil die Besucher beten. Hier können sie’s sich aussuchen, wen sie verehren: Buddha, Konfuzius, Laotse – oder gleich alle drei.

An der Straße zwischen Datong und dem Kloster liegen Felder und Dörfer, die meisten neu angelegt mit gleichförmigen Häusern an geraden Straßen. Ein Dorf an einem ausgetrockneten Flussbett erscheint viel älter, es ist aus Lehm gebaut und krumm und schief. Man kann es sich ansehen, die Bewohner sind freundlich und gelassen. Einmal am Tag bekommen sie Wasser aus dem Gemeinschaftsbrunnen, die Häuser sind eng und nur mit Mühe zu heizen. Wer hier wegziehen kann, zieht weg, in eines der gesichtslosen neuen Dörfer oder in die Stadt, wo es sich bequemer lebt.

Wer weiß, was sie mit dem Lehmdorf machen, wenn es leer ist. Vielleicht abreißen und neu bauen. So läuft das.

An einer langen Lehmmauer zur Straße hin prangt ein Text, weiße große Schriftzeichen auf rotem Grund. Ob das eine Parteilosung sei, fragt man, ein Mao-Motto vielleicht? Ach was, das sei Werbung für Plasma-Fernseher, ganz hinten steht die Nummer der kostenlosen Bestell-Hotline.

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