zum Hauptinhalt
Auf Marmor gebaut. Das neoklassizistische Rathaus von Ermoupoli wurde vom Deutschen Ernst Ziller geplant. Im Vordergrund die Statue des Freiheitskämpfers Miaoulis.

© Kaiser

Der unentdeckte Syros: Hundert Meter zur Eleganz

Die Kykladeninsel Syros ist beliebt bei Griechen. Ausländische Touristen kommen hier selten an. Vielleicht ein Glück.

Steuerbord nur karger Fels. Kilometer für Kilometer. Soll das unsere Urlaubsinsel sein? Das kann doch nicht wahr sein. Doch die Lautsprecheransage zerstreut alle Hoffnungen. „We are approaching the island of Syros“, tönt es daraus. Die Fähre biegt um graues, poröses Gestein – und gleitet in den Hafen hinein. Fertig machen zum Ausstieg in Ermoupoli, der Inselhauptstadt. Aberhunderte Häuser ziehen sich, wundersam aneinandergeschmiegt und ineinandergeschachtelt, den Hang hinauf.

Ein Labyrinth in Pastell, puderrosa, limonengelb, sandfarben, lindgrün. „Syros ist etwa der Nabel von Griechenland, die Hauptstadt der Eleganz und Noblesse. Keiner könnte sich vorstellen, eine solche Welt auf einem kahlen Felsen inmitten der Ägäis zu finden“, schrieb der französische Schriftsteller Theophile Gautier vor gut 150 Jahren. Da möchte man doch sofort hineinflanieren.

Aber so einfach funktioniert das nicht. In der Straße, die die Hafenbucht säumt, wuselt es vor Menschen, Autos und Motorrädern. Statt ägäischer Gelassenheit herrscht hier eher Athener Tempo. Läden, Büros, Bars und Restaurants reihen sich aneinander. Im Vergleich zu verträumten Kykladenorten wirkt Ermoupoli fast wie eine Metropole. Die meisten der etwa 22 000 Bewohner der 84 Quadratkilometer großen Insel wohnen hier. Ermoupoli ist auch Verwaltungssitz und Präfektur der Südlichen Ägäis, zu der die Kykladen gehören. Wer also auf Milos, Tinos oder Mykonos wichtige amtliche Stempel braucht, muss sich hierher bemühen. Das ist ein Grund dafür, dass die Insel von so vielen Fähren angelaufen wird. Mehrmals am Tag gibt es auch eine Verbindung ins gut dreieinhalb Stunden entfernte Piräus.

Rund um Syros glitzert das tintenblaue Meer, ein paar schöne Buchten scheinen wie geschaffen, dort das Strandtuch auszubreiten. Trotzdem kommen nur wenige ausländische Touristen auf das Eiland. „80 Prozent unserer Urlauber sind aus Griechenland“, sagt George Poussaios, Gouverneur der Südlichen Ägäis. Aber die Griechen kommen nur im Juli und August. In der übrigen Zeit wäre reichlich Platz für Feriengäste aus aller Welt. Merkwürdig, dass die Insel auch in ausführlichen deutschen Griechenlandreiseführern oft unerwähnt bleibt. Das muss doch einen Grund haben!

„Syros gibt seine Schätze nicht auf den ersten Blick preis“, sagt Sylvia Spaar. Die Schweizerin unternahm, gemeinsam mit ihrem Mann, viele Segeltörns durch die griechische Inselwelt. Vor gut zehn Jahren hat sich das Ehepaar – nun im Ruhestand – auf Syros niedergelassen. „Sie werden bald verstehen, warum wir uns gerade in diese Insel verliebt haben“, sagt Sylvia Spaar lächelnd. Und führt uns weg von der lauten Hafenmeile, hinein in den Stadtkern von Ermopoli.

Ermoupoli war einst ein blühendes Handelszentrum

Delikatessen in Ermoupoli
Delikatessen in Ermoupoli

© Kaiser

Unversehens stehen wir in der Welt von Theophile Gautier. Unter unseren Füßen weiße Marmorplatten, vor uns ein Palast von königlichen Ausmaßen. „Das ist das Rathaus“, erklärt Sylvia Spaar. Der neoklassizistische Bau wurde 1876 von Ernst Ziller, einem gebürtigen Sachsen, entworfen. Das Lebenswerk des Deutschen ist in ganz Griechenland, vornehmlich aber in Athen, zu bewundern. Rund 600 Gebäude, darunter Privatvillen und Kirchen schuf er und prägte so die klassizistische Architektur des Landes im 19. Jahrhundert entscheidend mit. Das Nationaltheater von Athen etwa stammt von ihm, die Nationalbank, das Neue Palais, heute Sitz des griechischen Präsidenten – und eben das Rathaus von Ermoupoli.

Die Bewohner von Syros sind stolz auf den Bau, der von hochgewachsenen Palmen flankiert wird. Ihr Rathaus ist einzigartig auf den Kykladen und selbst in größeren Städten auf dem Festland kaum denkbar. Wer drinnen etwas zu erledigen hat, steigt die kolossal breite marmorne Freitreppe bis zu den Eingangspforten empor.

In gebührlichem Abstand vor dem Gebäude steht das Denkmal von Admiral Andreas Miaoulis, der im Freiheitskrieg gegen die Osmanen die griechische Flotte befehligte. Im Grunde hat er damit auch Geburtshilfe für Ermoupoli geleistet. Denn erst im Verlauf dieses Unabhängigkeitskrieges (1821 bis 1829) ist die Stadt entstanden. Viele griechischen Flüchtlinge, darunter wohlhabende Geschäftsleute, kamen auf die, damals neutrale, Insel.

Ermoupoli wuchs rasch und entwickelte sich zum großen Handelszentrum. Werkstätten, Fabriken und eine Werft entstanden. Man verdiente gut in der Stadt – und wollte sich nach getaner Arbeit zerstreuen. Das Theater „Apollon“ wurde errichtet, das heute noch bespielt wird. Es sieht der Mailänder Scala verblüffend ähnlich. Wohlhabende Bürger ließen sich prächtige Herrenhäuser und Villen bauen, von denen heute einige zu sogenannten Boutiquehotels geworden sind.

Ende des 19. Jahrhunderts schien es vorbei mit der Herrlichkeit auf Syros. 1893 wurde der Kanal von Korinth fertiggestellt und Piräus zum wichtigsten Hafen Griechenlands. Ermoupoli versank in der Bedeutungslosigkeit. Die Industrieanlagen, etwa die Schrottürme, in denen flüssiges Blei durch freien Fall zu Kugeln wurde, verfielen. Heute beherbergen sie ein Museum. In der 1861 gegründeten Werft Neorion werden keine Schiffe mehr gebaut, sondern nur noch repariert. Dennoch ist Neorion der größte Arbeitgeber auf der Insel, knapp 500 Menschen sollen hier noch beschäftigt sein.

Keine Reklamen, keine laute Musik: In Ano Syros steht die Zeit still

Gasse in Ano Syros.
Gasse in Ano Syros.

© mauritius images

Gemüse, Obst und Wein werden angebaut, die Kapern von Syros sind legendär, der Käse San Michalis auch in Athen begehrt. Dennoch: Die Insel braucht Touristen. Bis zur Krise war sie mit den griechischen Feriengästen gut bedient. Doch nun kommen weniger – und vor allem: Sie sind nicht mehr so spendabel. „Die Urlauber haben ihr Verhalten geändert“, sagt Sylvia Spaar. „Früher bestellten die Griechen im Urlaub, bis sich die Tische bogen, aber sie aßen höchstens die Hälfte auf.“ Nun orderten sie wenig und putzten alles weg.

Jetzt sollen es ausländische Touristen richten, um die man zuvor nie geworben hat. Wie also können sie wissen, was sie verpassen, wenn sie hier einfach nur vorbeifahren? Man muss nur hinaufsteigen zum Hügel Agios Georgios. Dort befindet sich der Ort Ano Syros, den es schon Jahrhunderte vor Ermoupoli gab. „Syros wurde im venezianischen Mittelalter oft von Piraten überfallen“, sagt Sylvia Spaar. „So siedelten die Menschen auf dem Berg, wo sie sich sicherer fühlten.“

Weiße Häuser drängen sich hier aneinander, die schmalen Gassen sind abenteuerlich verwinkelt. Ein herrliches Viertel für Souvenirgeschäfte und Schmuckläden. Aber: Es gibt sie nicht. Keine Reklamen, keine Animation, keine laute Musik. Stattdessen ranken burgunderrote Bougainvilleen um blau lackierte Fensterläden, Katzen dösen auf Treppenstufen, ein alter Mann lässt gedankenverloren das Komboloi, die typische Perlenkette, durch die Finger gleiten. Die winzige Terrasse von Lili’s Taverne ist verwaist.

Fast wären wir vorbeigelaufen am liebenswürdigen Museum, das Markos Vamvakaris gewidmet ist. 1905 wurde der legendäre Bouzoukispieler in eben diesem Haus geboren. Die Eltern waren bettelarm, viele Kinder mussten durchgebracht werden. Markos ging nach Piräus, um dort als Fleischer Geld zu verdienen. Die harte Arbeit versuchte er in seiner Musik zu vergessen. „Er schrieb sehnsuchtsvolle Verse und kleidete sie in Noten“, sagt Achill Dimitropoulos, der das Museum betreut. Markos gründete ein Rembetiko-Quartett. „Die Musik war ein echtes Wunder," sagt Dimitropoulis.

Ein Wunder sind vielleicht auch die vielen Kirchen auf Syros. Eine prächtige erhebt sich gleich neben der Villa Selena in Ermoupoli. Zum Greifen nah ist die blaue Kuppel, wenn man beim Frühstück auf der Hotelterrasse sitzt. Gästebetreuerin Maria sagt, dass es für alle Menschen eine Kirche gebe auf Syros. „Hier haben wir den Nikolaus der Reichen, und oben, in Ano Syros, gibt es die kleinere Variante, den Nikolaus der Armen", sagt sie. „In Ano Syros sind die meisten Menschen katholisch“, erklärt Sylvia Spaar. Schließlich stand der Ort während der Osmanenzeit unter französischem Protektorat. Als die griechischen Flüchtlinge nach Ermoupoli kamen, brachten sie den orthodoxen Glauben mit. Heute gehört etwa die Hälfte der Bewohner der katholischen, die andere der orthodoxen Konfession an.

Die Insel hat sich ihre Seele bewahrt

Traumblick von Ano Syros
Traumblick von Ano Syros

© Kaiser

Das Meer lockt. In Galissas ist der Sand fein, Tamarisken spenden Schatten. Im Fischerort Kini muss man zwar auf Kieseln liegen, aber dafür speist man wie im Himmelreich. Das Restaurant „Allou Yialou“ ist eine Offenbarung. Inhaber Giannis erledigt das Geschäftliche, seine Frau Lina steht am Herd. Und was sie da zaubert! Garnelen in Ouzo-Soße, Muscheln mit Rosmarin, Lamm, eingelegt in Milch mit Honig. „Das sind fast alles Rezepte meiner Großmutter, die ich verfeinert habe“, sagt Lina. Kein Wunder, dass am Lokal das Gütesiegel „Aegean Cuisine“ prangt, das ausgezeichnete Regionalküche preist.

Vor gut einem Jahr hat Giannis mit dem „Mammo“ auch eine Weinbar am Hafen von Ermoupoli eröffnet. Vor allem griechische Tropfen werden ausgeschenkt, dazu gibt's einfache Häppchen oder raffinierte Speisen. Der Laden läuft gut. „Wenn man Ideen hat, etwas wagt und hart arbeitet, kann man es auch jetzt schaffen“, sagt der ernste 50-Jährige. Aber ein bisschen sorgt er sich vielleicht doch, dass die wohlhabenden Athener ausbleiben oder das trubelige Mykonos vorziehen könnten. Die Jetset-Insel ist nur eine gute Fährstunde entfernt, und doch Lichtjahre weit weg.

Man muss nur den Norden von Syros betrachten. Noch immer ist er fast unberührt. Eine schmale Straße führt hin, die kurz hinter dem Dorf San Michalis einfach endet. „Von hier aus kann man herrliche Wanderungen unternehmen“, sagt Sylvia Spaar, die manchmal Urlauber führt. Wahrscheinlich kehrt sie mit ihnen dann auch ein in der einzigen Taverne des Dorfes. Vergilbte Schwarz-Weiß-Fotos, die von bäuerlicher Arbeit künden, hängen an hellgelben Wänden. Krüge und Körbe stehen da, irgendwo ist ein Fischernetz gespannt. Vor wie viel Jahren wurde das wohl schon so dekoriert? Der Wirt stellt Oliven und Weißbrot auf den Tisch, schenkt roten Landwein in dickwandige Gläser. Der Sonnenuntergang ist spektakulär – und wir haben ihn für uns allein.

Am Himmel hat sich’s die Mondsichel bequem gemacht. Auf dem Marmorplatz von Ermoupoli sind die eiligen Passanten des Tages verschwunden. Vor einer Bar sitzen zwei Männer auf schlichten Holzstühlen. Sie singen, nein, sie zelebrieren den Rembetiko. Fast ganz für sich allein. Syros hat sich seine Seele bewahrt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false