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Geschichte am Kai. Das Auswandererhaus am Neuen Hafen in Bremerhaven zeigt in einem Erweiterungsbau die deutsche Migrationsgeschichte seit 1685.

© Ingo Wagner/dpa

Deutschland: Im Stillen war Heimweh

Zwischen Angst und Zuversicht: Das Auswandererhaus Bremerhaven widmet sich jetzt auch der Geschichte von Einwanderern.

„Das gibt’s ja gar nicht!“ Der Besucher der neuen Einwandererabteilung des Auswandererhauses Bremerhaven kann es nicht fassen. Er schüttelt den Kopf. Gebannt schaut er auf einen der Computerbildschirme. Fragen konnte er seine verstorbenen Großeltern nicht mehr, wann sie in den dreißiger Jahren mit seiner späteren Mutter aus den USA nach Deutschland zurückgekehrt waren. Jetzt weiß er es. Es ist für den 56-Jährigen wie eine Botschaft aus dem Jenseits. „Ich habe meine Großeltern auf einer der Passagierlisten gefunden“, sagt er sichtlich aufgewühlt. „Opa ist 1929 in die USA gegangen – zu General Motors in Detroit. Er war Ingenieur. Dann hat er meine Oma nachgeholt. Beide sind irgendwann zurückgekommen. Meine Oma hatte zu starkes Heimweh.“ Letzteres steht natürlich nicht in der Passagierliste, das haben ihm die Eltern erzählt. Jetzt weiß er auch, dass sie im Jahr 1932 zurückkehrten. „Meine Mutter ist also mit drei, vier Jahren aus den USA nach Deutschland gekommen. Sie wusste es nicht mehr, und ich hätte nicht geglaubt, diese Angaben hier zu finden“, sagt er noch.

So etwas passiert im Auswandererhaus des Öfteren, sagt Mitarbeiterin Ilka Seer: „Eine Frau hat hier schon Angaben zu ihrer Mutter gefunden und sie so aufspüren können.“ Im Forum Migration können Besucher in fünf verschiedenen Datenbanken auf Spurensuche nach ausgewanderten Vorfahren gehen.

Der Erweiterungsbau aus Beton, verkleidet mit einer Lärchenholzfassade, kostete 4,5 Millionen Euro. Der Anbau ist 1000 Quadratmeter groß, 971 Quadratmeter gehören zur Ausstellungsfläche.
Der Erweiterungsbau aus Beton, verkleidet mit einer Lärchenholzfassade, kostete 4,5 Millionen Euro. Der Anbau ist 1000 Quadratmeter groß, 971 Quadratmeter gehören zur Ausstellungsfläche.

© Andreas Heller, Architects & Designers

Wie werden Auswanderer zu Einwanderern? Wie lebt man sich in einem neuen Land ein? Und wie ergeht es Kindern und nachfolgenden Generationen? Diese und weitere Fragen werden seit wenigen Wochen auch im 2005 gegründeten Auswandererhaus beantwortet, das damit zum ersten Migrationsmuseum in Deutschland wird. Und in Europa. Denn bislang gibt es kein Museum, das sich zugleich zwei Aspekten der Migration widmet: der Auswanderung und der Einwanderung.

Migrationsmuseum - eine begehbare Vergangenheit

Ankunft und Abfahrt in der Grand Central Terminal in New York. Museumsdirektorin Simone Eick steht im neuen Ausstellungsbereich des Deutschen Auswandererhauses, der um 300 Jahre Einwanderung in die USA ergänzt worden ist.
Ankunft und Abfahrt in der Grand Central Terminal in New York. Museumsdirektorin Simone Eick steht im neuen Ausstellungsbereich des Deutschen Auswandererhauses, der um 300 Jahre Einwanderung in die USA ergänzt worden ist.

© Joerg Sarbach/dapd

Im älteren Teil des Deutschen Auswandererhauses können Besucher quasi in die Biografie eines echten Auswanderers schlüpfen und ihn in die USA begleiten. In verschiedenen Inszenierungen erleben sie die beschwerliche Reise vom Auswandererhafen in Bremerhaven bis zur Aufnahmestation auf Ellis Island in der Mündung des Hudson River vor Manhattan. Dieses museumsdidaktische Prinzip, das jedem Besucher freistellt, wie intensiv er sich auf eine Biografie einlässt, wurde auch im Erweiterungsbau fortgeführt.

Im neuen Teil tauchen die Besucher dann in den Bahnhof Grand Central Terminal in New York City ein und erfahren viel über das Leben der Auswanderer, die im neuen Land zu Einwanderern geworden sind. Ein Teil der Tickethalle des Bahnhofes wurde maßstabgetreu nach alten Originalplänen gebaut. An acht Schaltern werden 18 Geschichten erzählt. Sehr berührende sind darunter, wie die des kleinen Mädchens, das nach dem Gelbfiebertod der Eltern plötzlich ganz allein mit ihrem Onkel im Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten dastand. Die Schalterhalle ist räumlich und didaktisch das verbindende Element zwischen Auswanderung und Einwanderung – Einwanderung und Auswanderung.

Ein weiterer neuer Abschnitt befasst sich nun auf zusätzlichen 1000 Quadratmetern mit der Geschichte von Einwanderern nach Deutschland. Künftig soll hier neben der Emigration von Europäern nach Nordamerika auch die Einwanderung nach Deutschland zum Thema werden. Das 2007 als Europäisches Museum ausgezeichnete Haus schildert dabei anhand von 15 Lebensgeschichten die Zuwanderung von der Zeit der Hugenotten vor rund 300 Jahren bis heute.

Durch eine Schwingtür gelangen die Besucher in eine begehbare Vergangenheit – das Deutschland des Jahres 1973. Es markiert die Wende in der deutschen Einwanderungspolitik: Am 23. November 1973 verhängte die Bundesrepublik Deutschland den Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte, die während des Wirtschaftsbooms so dringend benötigt wurden. Die historische Alltagswelt findet sich in Form einer fiktiven Ladenzeile mit Originaleinrichtungen wieder.

Begehrte Ware. Der Italiener Primo Olivier wird in Deutschland Eismann.
Begehrte Ware. Der Italiener Primo Olivier wird in Deutschland Eismann.

© N. Olivier

In allen Geschäften finden sich Memorabilien der Einwandererfamilien: Erinnerungsobjekte, Schriftstücke, Fotos. Es gibt ein Antiquariat, ein Kaufhaus, ein Reisebüro, ein Fotogeschäft und eine Eisdiele. „300 Jahre Einwanderung kann man nicht zeigen“, sagt Museumsleiterin Simone Eick, „da muss man lesen. Hoffnung, Angst, Mut und Zuversicht – das lässt sich nicht ausstellen, das muss man inszenieren. Wir können Lebensentwürfe zeigen, die Perspektive derjenigen einnehmen, die hier angekommen sind.“

In die Rolle eines Emigranten schlüpfen

Typisch 60er Jahre – deutsche Straßenmöbel sind nun museumsreif.
Typisch 60er Jahre – deutsche Straßenmöbel sind nun museumsreif.

© Reinhart Bünger

Zu ihnen gehörte vor nunmehr acht Generationen auch Philippé Connor. Als Hugenotte wird der Kammmacher in Frankreich unter Ludwig XIV. verfolgt und kommt 1710 nach Brandenburg. Die Berlinerin Petra Behringer gehört zu seinen Nachfahren. Sie hat eine Familienbibel zur Verfügung gestellt, um an Philippés Geschichte zu erinnern – und eine Börse des Urgroßvaters. „Die Hugenotten sind in Berlin-Mitte angesiedelt worden“, sagt sie. Es sei damals nicht einfach gewesen auszuwandern: „Man konnte ja nicht einfach sagen: Ich gehe. Man brauchte Empfehlungsschreiben und Bürgen.“ Was von Philippé Connors Geschichte ist in Petra Behringers Familie heute noch lebendig? „Die Wahrheitsliebe vielleicht“, sagt sie.

Erzählt werden 15 Geschichten, darunter die der Vertriebenen und Flüchtlinge infolge des Zweiten Weltkriegs sowie der Gastarbeiter und Russlanddeutschen in der Bundesrepublik. So können die Besucher etwa den Spuren einer italienischen Eismacherfamilie folgen, die sich hier niederließ. Aber auch regional angesiedelte Gruppen wie die „Ruhrpolen“ und die westfälischen „Tödden“ (saisonal wandernde Kaufleute und Hausierer) kommen zu Wort. „Unsere Besucher werden entdecken, dass fast jeder einen Einwanderer, Flüchtling oder Vertriebenen unter seinen eigenen Vorfahren finden kann“, sagt Museumsdirektorin und Migrationsforscherin Simone Eick. Gerne hätte sie noch mehr Migrationsbewegungen dokumentiert, wie die der „Boat People“ etwa, die während des Vietnamkriegs über Umwege nach Deutschland kamen. Doch dafür reichte der Platz nicht.

Immerhin kam ein Erweiterungsbau zustande. „Dafür war die Sarrazin-Debatte durchaus hilfreich“, sagt Eick. „Man kann nämlich nicht so ein Haus haben und sich nicht der Integrationsdebatte stellen.“ Aus dem Thema innerdeutscher Wanderungen zwischen Ost und West habe man sich bisher konzeptionell herausgehalten, sagt Eick. Hierzu müsse noch mehr geforscht werden. Auch die Umweltmigration infolge von Naturkatastrophen sei ein Feld, das noch beackert werden müsse.

Ziel der Museumsmacher ist es, Deutschland als Einwanderungs- und Auswanderungsland darzustellen. Nicht ohne Grund wurde das Haus dort errichtet, wo mehr als sieben Millionen Auswanderer zwischen 1830 und 1974 die Schiffspassage nach Übersee antraten. „Wir liegen mitten in Europa“, sagt die Museumleiterin, deren Großväter aus dem osteuropäischen Raum kamen. „Deutschland hat Weltkriege ausgelöst und ganz Europa in Bewegung versetzt. Wanderung ist etwas, was dieses Land geprägt hat und prägt.“

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