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Bequem durch den Schnee. Im Achental gibt es zur Freude der Gäste den ersten „Premium“-Winterwanderweg Deutschlands.

© Gerhard Fitzthum

Deutschland: Verzaubert auf der Kaiser-Runde

Im bayerischen Achental sind die Skilifte weitgehend abgebaut. Vor allem Winterwanderer freuen sich über das „Ökomodell“.

Die Richter Heidi liebt ihre Bergheimat und erzählt gerne von ihr: „Mai, woas hoam mers schee“, denke sie immer wieder, wenn sie zum „Goaglstoa“ hinaufblicke. „Nur Natur, so weit das Auge reicht!“, ergänzt die lebenslustige Wirtin in Hochdeutsch. Der Geigelstein ist der optische Dreh- und Angelpunkt des Achentals, das sich vom Chiemsee nach Süden in die Chiemgauer Alpen hinaufzieht.

In den siebziger Jahren wäre es um die wilde Schönheit des Gipfels jedoch beinahe geschehen gewesen: Ein auswärtiger Investor wollte hier eine der größten Skischaukeln Bayerns bauen. Doch dann kam, womit niemand gerechnet hatte: Im Tal formierte sich erbitterter Widerstand gegen das Projekt – und er hatte Erfolg. 1991 wurde der Schlechinger Hausberg sogar unter Naturschutz gestellt.

Damals sei sie vom Sieg der Alpenschützer nicht eben begeistert gewesen, gibt Heidi Richter zu. Sie hatte den Stillstand befürchtet, den die Bergbahn-Befürworter an die Wand gemalt hatten. Andere Entwicklungsperspektiven seien ja nicht zu sehen gewesen. Heute weiß die Besitzerin des Hotel-Gasthofs Hubertus hingegen, dass die Entscheidung richtig war. Mit dem unverbauten Geigelstein hat man einen Trumpf, der sich auch im Winter ausspielen lässt. Vor allem an schönen Wochenenden.

Dann ziehen hunderte Skitourengeher und Schneeschuhgänger ihre Spuren zum spektakulären Aussichtsgipfel hinauf. Natürlich hätte man mit dem Skibetrieb mehr Geld verdienen können, man wäre aber auch in Abhängigkeiten geraten – mit unsicherem Ausgang. Und vor allem hätte man das wichtigste Kapital – die unverbrauchte Natur – aufs Spiel gesetzt.

Dass die Schlechinger aus der Krise gestärkt hervorgingen, ist kein Zufall. Statt im Zeitalter des Klimawandels in Schneekanonen zu investieren, erarbeiteten sie ein „Ökomodell“, das 1999 auf acht Achental-Gemeinden erweitert wurde. Es hat inzwischen so viele Auszeichnungen bekommen, dass Delegationen aus der ganzen Welt anreisen, um sich ein Bild davon zu machen, wie eine umwelt- und sozialverträgliche Regionalentwicklung aussehen kann.

Treibende Kraft war der Schlechinger Ex-Bürgermeister Fritz Irlacher. Viel zu klein und unbedeutend seien die Dörfer an der Tiroler Ache gewesen, um mit den bekannteren Destinationen mithalten zu können, sagt der heute 71-Jährige in breitem Bayerisch. Es habe einen ganz anderen Ansatz gebraucht – eine Stärkung der regionalen Kreisläufe. Statt um das schnelle Geld sei es darum gegangen, Tourismus, Landwirtschaft und Naturschutz in Einklang zu bringen.

Irlacher überzeugte die Bauern davon, nach biologischen Kriterien zu produzieren, ein Konzept der Selbstvermarktung aufzubauen und ihr Tätigkeitsfeld durch touristische Angebote und Landschaftspflege zu erweitern. Ein besonderes Augenmerk galt dabei den traditionellen Streuobstwiesen. Mehr als tausend Apfel-, Birn- und Zwetschgenbäume wurden noch zusätzlich gepflanzt – nicht nur, um das Landschaftsidyll zu erhalten, sondern auch, um mit der Herstellung von Most, Säften, Marmeladen, Likören und Obstbränden den Erzeugern ein zusätzliches wirtschaftliches Standbein zu sichern.

„Regionale Speisekarte“ bleibt noch Zukunftsmusik

Am beeindruckendsten sind freilich die Erfolge im Sektor der Energieversorgung: 2007 baute man einen zentralen Biomassehof, in dem das Holz aus den umliegenden Wäldern CO2-neutral verwertet wird. 2010 wurde dann ein Heizwerk gebaut, das über ein in den Boden verlegtes Leitungsnetz hunderte von Haushalten mit Wärme versorgt und inzwischen jährlich sieben Millionen Liter Heizöl einspart. Dabei sind zehn neue Arbeitsplätze entstanden – an Ort und Stelle, statt in weit entfernten Städten.

Für den touristischen Erfolg sorgt die überall spürbare Naturnähe. Nicht weniger als dreißig Prozent des Modellraums bestehen aus Schutzgebieten und Biotopen. Fast noch wichtiger ist die kleinräumige Kulturlandschaft, in der mancherorts noch nie Kunstdünger ausgebracht wurde. Elf Enzian- und vierzig Orchideensorten bezeugen einen Artenreichtum, von dem man in den agrarindustriell geprägten Nachbartälern nur träumen kann.

Im Winter geht es bislang eher um Schadensbegrenzung: Um die skifahrende Klientel nicht zu vergraulen, bietet man einen kostenlosen Bustransfer ins Skigebiet von Kössen an, das nur wenige Kilometer entfernt in Tirol liegt. Im oberen Talbereich ist das Loipennetz nun durch zahlreiche Winterwanderwege ergänzt worden. Dazu kommen gut gepflegte Schlittenbahnen und Natureisflächen.

Mit solchen Angeboten profiliert sich auch Reit im Winkl, das 2011 als neunte Gemeinde dem „Ökomodell Achental“ beigetreten ist. In einem der abgelegensten und schneesichersten Dörfer des deutschen Alpenraums wird noch viel in den Pistensport investiert, den besinnlichen Winteraktivitäten schenkt man aber keine geringere Aufmerksamkeit. Für die wachsende Zahl der Winterwanderer pfadet man mittlerweile fast fünfzig Kilometer Wege durch den Schnee.

Das attraktivste Angebot ist die sogenannte Kaiserblick-Runde, die direkt am Ortsrand beginnt. Vom Loipennetz vollständig entflochten, zieht sie sich in weiten Schleifen über das sanft gewellte Sonnenplateau. Der Schnee knirscht unter den Sohlen, die Lungen blasen weiße Fahnen in die Winterluft. Magisch wird der Blick vom wildzerklüfteten Kaisergebirge angezogen. Dazwischen taucht man immer wieder in Märchenwälder ein, in denen alle Bewegung wie eingefroren erscheint. Viel weiter kann man sich vom modernen Pistentrubel tatsächlich nicht entfernen. Kein Wunder, dass der sieben Kilometer lange Parcours das „Premium“-Zertifikat des deutschen Wanderinstituts erhielt – als erster Winterwanderweg der Republik.

Nicht weniger bezaubernd ist die Landschaft zwischen Marquartstein und Schleching, im eigentlichen Achental. Die Skilifte wurden hier allesamt abgebaut, still ruht die unberührte Berglandschaft in sich – Winter, wie er früher einmal war. Inzwischen gibt es einen Winterwanderweg, der alle Dörfer und Weiler des Tals abseits der Straßen miteinander verbindet. Nebendran strömt die Tiroler Ache dem Chiemsee entgegen, der Blick gleitet über eine offene Landschaft, in der einzelne Baumgruppen stehen und Kirchturmspitzen in den Himmel zeigen.

Viel zu tun gibt es aber noch im Feld der Selbstvermarktung: Zwar haben die Achentaler Landwirte kaum Mühe, ihre Obsterzeugnisse an den Mann zu bringen, die versprochene „regionale Speisekarte“ ist jedoch noch Zukunftsmusik, vor allem, was die Fleischgerichte betrifft.

Das liegt in erster Linie daran, dass die heutigen Köche es nicht mehr gelernt haben, ein halbes Schwein oder ein halbes Rind so rückstandslos zu verwerten, dass sich der höhere Preis für die Bioware bezahlt macht.

Es liegt allerdings auch am typischen Achental-Gast. Der schätzt zwar die intakte Natur und das pastorale Landschaftsbild, in Bezug auf die Ernährung ist er hingegen eher anspruchslos. Weil kaum jemand nach der Herkunft des Fleisches fragt, kaufen die meisten Wirte weiterhin konventionelle Großhandelsware. Allem Anschein nach sind die Gäste noch nicht reif für das „Umdenken“, mit dem man im Achental jedoch schon ein ganzes Stück vorangekommen ist.

Gerhard Fitzthum

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