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Panoramablick – in 64 Meter Höhe vom Dach des MAS. Foto: imago

© IMAGO

Reise: Eine Terrasse zum Küssen

Antwerpen renoviert das einstige Rotlichtviertel „Eilandje“ am alten Hafen – und stellt mutig ein riesiges Museum hinein

„Brüssel ist die Kapitale, Antwerpen ist das Kapital“, heißt es in Belgien. In Antwerpen wird das Geld verdient, mit dem zweitgrößten Hafen Europas, mit Diamantbearbeitung und -handel, wobei Letzterer allerdings angesichts der asiatischen Konkurrenz von sinkender Bedeutung ist. Doch Antwerpen gelingt es zusehends, seine jahrhundertealte Funktion als Stadt der Kultur und der Künste ins Feld zu führen.

Das für Antwerpen goldene 16. Jahrhundert mit seiner Prachtarchitektur sowie Peter Paul Rubens machen die Stadt zu Belgiens Tourismusziel Nummer eins. Doch die Gegenwartskultur steht dem historischen Erbe nicht nach. Das Königliche Ballett von Flandern steht hoch im Kurs, Mode und Schmuckdesign setzen internationale Trends. Hin und wieder macht Antwerpen auch architektonische Schlagzeilen, etwa durch den exaltierten Justizpalast, den Richard Rogers als städtebaulichen Akzent an den Autobahnring südlich der Altstadt setzte, oder durch den staunenswerten Neubau der Hafenbehörde, den Zaha Hadid gerade in Angriff nimmt.

Der Neubau entsteht am Kattendijkdok, im Hafenareal aus dem neunzehnten Jahrhundert, das mit dem Wachstum des Hafens nach Norden und den Dimensionen moderner Kaianlagen und Containerriesen nicht mehr mithalten konnte.

Am ältesten sind die beiden Hafenbecken Bonapartedok und Willemdok unmittelbar nördlich der Altstadt. Napoleon hatte hier nördlich der barocken Stadtbefestigung das erste, durch Schleusen vom Tiedenhub der Scheldemündung abgetrennte Hafenbecken anlegen lassen. Von hier aus plante er die „Pistole auf das Herz Londons“ zu richten und England zu attackieren.

In den vergangenen Jahrzehnten dämmerte das etwa 35 Hektar große älteste Hafenareal „Eilandje“ als verrufenes Rotlichtviertel vor sich hin. Wie Hamburg, Amsterdam oder London ergreift jetzt auch Antwerpen die Chance, sein altes Hafengebiet in Innenstadtnähe zu einem boomenden Stadtteil zu entwickeln.

Architektonisches Ausrufezeichen ist das neue Museum aan de Stroom, kurz MAS, ein Leuchtturmprojekt, das als Initialzündung für ein ehrgeiziges städtebauliches Entwicklungsszenario fungiert. Am Strom steht es nicht direkt, sondern zwischen Bonapartedok und Willemdok an jener Stelle, an der einst das Handelshaus der Hanse gestanden hatte.

Als eine Art Hafenspeicher sehen denn auch die Rotterdamer Architekten Willem Jan Neutelings und Michiel Riedijk den Museumsbau. Gestapelte Kisten aus der Vor-Containerzeit sollte der Bau symbolisieren, und so türmten sie zehn Geschosse aufeinander, Foyer, Verwaltungsgeschoss, sieben Ausstellungsebenen und obenauf ein Restaurant. Sie schraubten bei ihrem Entwurf die Baumassen buchstäblich in die Höhe und schufen damit das neue Wahrzeichen der Stadt.

Doch Neutelings Riedijk hatten kein schlichtes Hochhaus mit Aufzugskern im Sinn. Jedes Geschoss kragt um satte neun Meter aus und ist gegenüber dem darunterliegenden um 90 Grad verdreht. Den dadurch entstandenen, sich spiralförmig nach oben windenden Freiraum haben sie mit einem Vorhang aus ondulierten Einscheibengläsern geschlossen.

„Boulevard“ nennen die Architekten den Spiralraum, der, von zehn Uhr bis Mitternacht frei zugänglich, die Öffentlichkeit ins Haus bringen soll. Per Rolltreppe lassen sich die Besucher nach oben tragen und genießen den fantastischen Ausblick über die Stadt, in jedem Stockwerk in eine andere Himmelsrichtung, bis hinauf zur Rundumsicht in 64 Metern Höhe. „Gibt es einen besseren Ort, um sich zu küssen, als die Dachterrasse dieses Gebäudes?“, schwärmt der Kulturstadtrat.

Ob das Kalkül aufgeht, muss sich noch zeigen, denn nur mit Küssen und Aussicht genießen wird man die Flaneure nicht auf Dauer ins Haus locken. Das elegante Restaurant „t’ Zilte“ des Zwei-Sterne-Kochs Viki Geunes im obersten Stockwerk ist sicher kein Magnet für das große Publikum. Man wird also die zweigeschossigen Eckräume noch mit Attraktionen ausstatten müssen, mit Cafébars und/oder mit Kunstobjekten (wie in der Wettbewerbsfassung vorgesehen). Man ahnt das Potenzial, aber es ist noch viel zu tun, vor allem für die Jugend, die man im Haus haben will.

Abgesehen vom gläsernen Vorhang ist der Boulevard an Wänden, Decken und Böden allseits mit demselben roten Sandstein verkleidet, der auch das Außenbild des Turms bestimmt und farblich mit den Ziegelbauten im Hafen korrespondieren soll. „Die steinernen Boxen für die Sammlungen historischer Objekte symbolisieren die tote Vergangenheit. Der Boulevard mit den gläsernen Wellen bringt das Leben ins Haus“, erläutert der Architekt seine Konzeption. Neutelings ziert seine Fassaden gerne mit semantischen Aperçus. Am MAS sind es neckische Hände aus Aluminiumguss, das Logo Antwerpens – überall präsent und selbst als Konfekt zu kaufen – , angebracht auf jeder dritten Fassadenplatte.

Vom Boulevard aus gelangt man in die sieben Ausstellungsgeschosse, fensterlose Blackboxes, in denen die unterschiedlichsten Ausstellungen präsentiert werden. Denn das MAS ist ein städtisches Haus, in dem drei Museen und mehrere Privatsammlungen zusammengefasst sind, eine fantastische Wunderkammer mit historischen, ethnischen, maritimen Sammlungen, mit Kunst aus allen Jahrhunderten und moderner Stadtplanung.

Kaum ein Tourist wird künftig die Stadt verlassen, ohne das MAS gesehen zu haben. Und ohne die Umgebung zu erkunden, die neue Kunstszene, die Strandbars, den Yachthafen und die restaurierten Lagerschuppen mit den Designshops, Restaurants und Eventlocations. Vom größten Lagerhaus im Quartier, dem Montevideo Magazijn No. 2 aus dem Jahr 1897, stehen zurzeit nurmehr die vielgiebligen Außenwände. Ein multifunktionales Veranstaltungszentrum wird in die historische Hülle eingebaut.

Baustelle sind derzeit auch die Backsteinbauten der Red Star Line. Hier wird 2013 ein Museum eröffnet, das die Geschichte der legendären Reederei erzählt, die zwischen 1873 und 1934 mehr als zwei Millionen Auswanderer aus Europa nach Amerika brachte, die in der Neuen Welt ihr Glück suchten. Auch Albert Einstein und seine Frau hatten sich am 12. Dezember 1932 hier auf der legendären „Belgenland“ eingeschifft, einem Schwesterschiff der Titanic.

Schon heute zu besichtigen ist die Sammlung historischer Hafenkräne am Rheinkai. Der liegt zwar nicht am Rhein, sondern an der Schelde, doch war er Ausgangspunkt des „eisernen Rheins“, einer direkten Eisenbahnverbindung nach Duisburg. Sie wurde so genannt, weil sich Antwerpen 1879 mit dem Bau der Strecke einen direkten Weg in den Wirtschaftsraum an Rhein und Ruhr schuf, wie ihn Amsterdam mit dem Rhein hatte.

Das „Eilandje“ ist auf dem besten Weg, Antwerpens Galerienviertel „Zuid“ in der Gunst des Publikums den Rang abzulaufen. Seit dem Baubeginn des MAS 2006 zieht das Quartier private Investitionen magisch an. Zwei 16-geschossige Hochhäuser mit teuren Apartments stehen schon, vier weitere sollen folgen, in den Erdgeschossen eröffneten Cafés und Boutiquen für Mode und Lifestyle. „Noch laufen die Geschäfte schleppend, aber wir wollten die Ersten sein“, sagt die Besitzerin der Lingerie-Boutique und schaut erwartungsvoll hinüber zum neuen Leuchtturm MAS. MIT AE!]

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