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Angst vor Eisbären muss auch an der Hudson Bay niemand haben. Doch Respekt sowie die nötige Umsicht sind wichtig. Der Ursus maritimus ist eben ein Raubtier.

© D.J.Cox, Wildlife, pa

Eisbärensaison in Kanada: Manchmal kuscheln sie

Nur kurz vor dem Winter lockt Churchill, die kanadische Kleinstadt an der Hudson Bay, Touristen an. Denn dann kommen die Eisbären.

Da steht er nun, der Koloss: ein eineinhalb Jahre alter Eisbär mit seiner Mama. Videokameras surren kaum vernehmlich, Smartphones blitzen, Stative werden verrückt. Drei Neuseeländer und ein kanadisches Pärchen, die Zuschauer des Spektakels, richten ihre kiloschweren Objektive wie Waffen auf die Wildtiere. Hier in Churchill an der Hudson Bay geht es fast zu wie in Cannes. Nur ohne roten Teppich und Filmprominenz. Die Tiere stehen unter digitalem Dauerbeschuss. Die Kameras geben alles, so weit die Akkus reichen. „Komm, schau zu mir“, bettelt die Kanadierin den Eisbären an. Der weiße Riese hebt die Tatze. „Hey! Boy, don’t! Enough“, befiehlt Terry Elliott, der 50-jährige bärtige Naturfreak und Eisbärenranger.

Dann macht er einen Schritt nach vorne, droht mit der Waffe in der Hand. Der Eisbärenjunge dreht langsam seinen Kopf. Wendet schließlich. Wie in Zeitlupe trotten Mutter und Sohn davon. Ranger Elliott kann Pfefferspray und sein Schrotgewehr in der ausgebeulten Tasche stecken lassen. „Look at that“, kreischt die Neuseeländerin und starrt auf ihr Display. Am Abend wird sie hunderte Aufnahmen auf ihren Laptop ziehen. Und immer das gleiche Motiv: ein Eisbär. Wie er im Schnee liegt. Kuschelt. Gähnt. Döst. Aufs Eis pinkelt.

Eine Eisbärensafari in Churchill führt mitten in die Einsamkeit. In ein kanadisches Dorf, das nur langwierig per Eisenbahn und Flugzeug mit dem Rest des Landes verbunden ist. Nirgendwo treffen Mensch und Eisbär so unmittelbar aufeinander wie an dieser Bucht nahe Churchill, der selbst ernannten „Eisbärenhauptstadt der Welt“. Etwa 10 000 Besucher reisen jeden Oktober und November aus dem einen Grund an: um die Raubtiere aus nächster Nähe zu beobachten. Das „Polar Bear Watching“ ist die größte Touristenattraktion in ganz Manitoba geworden. Ein Glück für diesen Ort, um den es sonst eher traurig bestellt ist.

Churchill liegt 1700 Kilometer nördlich von Winnipeg, im Norden Manitobas. Mobilfunkempfang gibt es keinen. Richtige Bäume auch nicht. Der 800-Einwohner-Ort liegt mitten in der Tundra, nördlich der Baumgrenze. Wer hier herkommt, kommt nicht zum Entspannen, Einkaufen oder Bummeln. Es gibt kein Kino, keine Fußgängerzone, kein luxuriöses Hotel. Nicht mal einen Friseursalon. Ein Barbier aus dem 550 Kilometer entfernten Thompson kommt einmal im Monat vorbei und schneidet Haare. Als der Ort im Jahr 1717 als Außenstelle der Hudson Bay Company gegründet wurde, ahnte man nicht, dass man die Handelsstation blöderweise auf der belebtesten Eisbärenwanderroute der Subarktis gesetzt hatte. Die Navy hat 1969 ihre Basis im Ort aufgegeben, damals lebten noch 4000 Menschen hier. Seitdem wirkt Churchill verlassen. „Rushhour“ heißt hier: Zwei Autos kommen, und der Bus muss kurz warten.

Bloß keine hungrigen Bären anlocken

Der Bär tobt hier nur im wörtlichen Sinne, zu Winterbeginn, wenn die Weißpelze im Ort auftauchen. Daher hat Churchill 1979 mit dem Eisbärentourismus begonnen. Schließlich ist das Land „Bärengebiet“. Die Eisbärsaison ist kurz, nur wenige Wochen im Jahr. In der Zeit muss das Geld verdient werden. Im Ort wimmelt es von „Polar Bear Lodges“, Bärenbars und Souvenirshops, in denen es den Eisbär gehäkelt, getöpfert, gemalt, als Wollmütze oder Pullimotiv gibt. Vor dem Eisbär gibt es kein Entrinnen.

Dass es die Tiere ausgerechnet nach Churchill zieht, hat Gründe: Sie wissen instinktiv, dass die Hudson Bay an dieser Stelle zuallererst zufriert. Unweit der Stadt warten daher jeden Herbst rund 1000 Eisbären, die vom Landesinneren zur Küste gewandert sind, auf das Zufrieren der Bucht, damit sie auf Robbenjagd gehen können. Jeder Tag, den sie mit Warten verbringen, lässt die hungrigen Raubtiere unruhiger werden. Sie kreisen Churchill immer weiter ein, und so passiert es, dass ein 400-Kilo-Koloss schon mal am helllichten Tage im Städtchen herumstromert.

Churchills Einwohner nehmen ihren „Belagerungszustand“ in dieser Zeit sehr ernst, verfallen jedoch nicht in Panik. Denn Begegnungen bedeuten für die Bären meist Gefangenschaft und Ausweisung. Für den Menschen sind sie zwar gefährlich. Doch die Bewohner sind gut vorbereitet: Um den Ort herum sind Fallen aufgestellt. „Eisbärenalarmschilder“ warnen an Stellen, wo sich Bären gern aufhalten: „Stop! Don’t walk in this area!“ Mülltonnen auf den Straßen gibt es schon lange nicht mehr: Bloß keine hungrigen Bären anlocken.

Unrat wird am Ortsrand sofort verbrannt. Häuser werden nicht abgeschlossen. In keinem Auto wird der Zündschlüssel abgezogen. Für den Fall der Fälle soll jeder schnellstmöglich flüchten können. Vor Verlassen des Hauses wird erst einmal aufmerksam nach links und rechts gespäht, dann gelauscht. Der Schulbus holt die Kinder direkt vor der Haustür ab. Jeder im Ort kann die Eisbären-Notruf-Hotline blind in sein Telefon tippen. Fünf bewaffnete Wildhüter rücken im Notfall Tag und Nacht sofort aus. Pro Saison gehen mehr als 300 Anrufe ein.

Eisbärfinden ist kein Kinderspiel

„In der kanadischen Arktis leben rund 60 Prozent aller Eisbären“, sagt Bob Windsor, Chef der örtlichen Naturschutzbehörde Manitoba Conservation in Churchill. „Die Tiere können sich nicht permanent auf Eis bewegen. Sie brauchen die stabilen Schneewehen auf dem Permafrostboden der Tundra. Andererseits zählen Eisbären zu den anpassungsfähigsten Säugetieren. Sie können ihrer Beute über hunderte Kilometer folgen, noch bei minus 37 Grad Celsius jagen. Und Eisbärweibchen leben bis zu acht Monate, ohne zu fressen, ohne zu trinken.“

Ihre Energiequellen finden die Bären allein auf dem arktischen Eis. Die fettleibigen Ringelrobben bilden ihre Grundnahrung. „Die Klimaerwärmung macht dem Bär zu schaffen. Die Wärme bringt das Eis zu schmelzen, und damit verschwinden auch die Robben. Das zwingt Eisbären, sich näher an die Menschen heranzupirschen“, sagt Windsor.

Etwa 50 Tiere landen jährlich im Eisbärenknast, erzählt Windsor: „Nachdem die Bären lange genug eingesessen haben, werden sie vorsichtig in Netze verpackt, per Helikopter rund 40 Kilometer nach Norden geflogen und wieder ausgesetzt. Um die Tiere vor Wind und Kälte zu schützen, decken wir die Augen ab. Taucht ein Bär viermal in Churchill auf, fällt er unter die Kategorie ‚Problembär‘ und muss fort.“ Die Aktion „Polar Bear Lift“ wird dann sorgfältig geplant. Der Pilot muss sich vergewissern, dass an dem Ort, wo das betäubte Tier abgesetzt wird, kein anderer Bär herumstreunt, denn das könnte für den schlafenden Bären tödlich enden. Eisbären stehen seit 1973 unter Schutz. Nur Inuit dürfen sie noch jagen.

Wer Pech hat und als Tourist keines der mächtigen Landraubtiere in Churchill selbst antrifft, kommt bei einer Tundra-Buggy-Tour möglicherweise auf seine Kosten. In hochrädrigen Wagen, die ausschauen wie ein abgeschnittener Schulbus, können sich Touristen sicher durch die Tundra kutschieren lassen – einige der rund 1000 Eisbären zeigen sich auf der siebenstündigen Tour garantiert. Wenn sich ein Bär dem Gefährt nähert und seine Tatze an den Wagen legt, ist man jedoch dankbar, jetzt nicht draußen zu sitzen.

„Man darf nie den Respekt verlieren“

Ein eisiger Wind weht über die Tundra. Ranger Terry Elliott führt seine Gäste zu Fuß rund um das Gelände der 40 Kilometer von Churchill entfernten Diamond Lake Lodge. Die dicken Parkas, in denen das halbe Dutzend Touristen stecken, als gingen sie jetzt zum Polarkreis, lassen sie wie Michelin-Männchen ausschauen. Die Gäste wohnen für viel Geld in einer sehr einfachen Blockhütte. Rund um die Uhr bollert hier der Holzofen. Jede Apfelsine, jeder Liter Milch muss von weit eingeflogen werden. Als Luxus gilt hier nicht das Bett oder ein Fünf-Gänge-Menü am Abend. Luxus ist es, als einer von nur wenigen Menschen mitten im Bärengebiet zu stehen.

Die Lodge wird seit zwei Tagen nun schon von der Eisbärenmama mit Kind belagert. Kein Besucher darf dabei ohne bewaffneten Beistand die Herberge verlassen. „Zu gefährlich“, sagt Elliott. Touristen merken: Eisbärfinden ist kein Kinderspiel. Der Ranger trägt immer die Waffe geschultert und jede Menge Leuchtfeuer in den Taschen. Er macht klare Ansagen: „Wenn ich sage, her zu mir, dann kommt ihr her und macht nicht noch drei Fotos. Und wegrennen? Probiert es erst gar nicht. Es ist das drittschnellste Tier der Welt.“ Seine Erfahrung lehrt ihn: „Man darf nie den Respekt verlieren. Nie vergessen, dass es sich um Raubtiere handelt. Bären sind sehr intelligent, das sehe ich an ihren Augen.“

Noch in den 1970ern mussten jährlich etwa 20 Bären erlegt werden. 2011 waren es drei Tiere, 2010 kein einziges. Das letzte Mal kam 1983 ein Mensch durch einen Eisbär zu Tode, erzählt Elliott. „Allerdings war der Mann echt dumm. Rohes Fleisch steckte in den Taschen. Damit beladen lief er einem Bären über den Weg. Was dann passierte, ist wohl klar.“

Eisbärensafari, Tag drei: Wieder stromern Mamabär und Babybär um die Lodge am Diamond Lake. Die Neuseeländerin ruft alle herbei: „Look!“ Sechs Gesichter starren durch das Fenster auf das Treiben der Bären da draußen. Die Kamera setzt niemand mehr aufs Stativ. Auch der Camcorder bleibt aus. So ist es immer, sagt Elliott und lacht dabei: „Beim ersten Tier, das ins Blickfeld kommt, flippen alle noch aus. Am letzten Tag heißt es dann: Ach, schon wieder einer.“ Eine Erfahrung, die wohl alle Stars irgendwann machen müssen.

Claudia Schuh

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